Königliches Polizei-Präsidium.

Magdeburg, den 14. März 1892

Geh. Journ. Nr. 157.

Geheim.

An den Königlichen Regierungs-Präsidenten Herrn Grafen Bandissin

Hochgeboren Hier

Betrifft den Stand der sozialdemokratischen Bewegung

Verfügung vom 25. Februar 1888

Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Rep C28 Nr. 860, Bd. 3, Bl. 193-202

Euer Hochgeboren beehre ich mich im Anschluß an meinen Bericht vom 10. September dieses Jahres – Geh. J. 144 – gehorsamst Folgendes vorzutragen:

A. Die Socialdemokratie gemäßigter Richtung im Polizeibezirk

1. Organisation

In der öffentlichen Versammlung am 15 .September 1891, die von etwa 550, meist der sogenannten Opposition angehörigen Personen besucht war, wurden die als Führer der Letzteren hierselbst geltenden Agitatoren, Kaufmann Albert Auerbach, Zimmerer Adolf Schultze und Handelsmann Max Baetge als Delegierte für den vom 14. bis 21. Oktober 1891 in Erfurt abgehaltenen Parteitag der sozialdemokratischen Partei Deutschlands gewählt. Der Referent dieser Versammlung, Auerbach, verteidigte die Opposition und hob hervor, daß es Pflicht der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten sie, von der Tribüne des Reichstages herab dem Volke zu erklären, daß die Sozialdemokratie den Umsturz wolle, die Endziele müßten unverhüllt und klar zu erkennen gegeben werden.

Die Magdeburger Delegierten stellten sich auf dem Parteitag auf die Seite der Berliner Opposition und verließen mit denselben am 5. Sitzungstage den Kongreß mit der Erklärung, daß sie sich der gewählten Kommission nicht stellen würden, und mit dem Wunsche, die angeblich gegen sie notwendigen Verhandlungen im Lichte der Öffentlichkeit geführt zu sehen.

Der nachträglich von den Buckauer Sozialdemokraten gemäßigter Richtung gewählte Schlosser Ellguth stimmte für das neue Partei-Programm, von welchem 1 Exemplar angeschlossen ist.

In der öffentlichen Versammlung am 21. Oktober 1891 kam es gelegentlich der Berichterstattung der Delegierten zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Gemäßigten unter Führung von Klees und den Radikalen. Die Ersteren behielten indes die Oberhand und drängten die Opposition zur Bildung einer eigenen Organisation.

Der Zimmerer Adolf Schultze hat hiernach sein Amt als Vertrauensmann der hiesigen Sozialdemokraten niedergelegt. An seine Stelle ist der der gemäßigten Richtung angehörende Drechsler Carl Lankau getreten. Als dessen Stellvertreter fungiert der sozialdemokratische Stadtverordnete Klees.

Um dieselbe Zeit haben auch die Neuwahlen zur Zeitungs-Kommission stattgefunden, deren Mitglieder gegenwärtig sämtlich der gemäßigten Richtung angehören.

Den Mittelpunkt der sozialdemokratischen Organisation gemäßigter Richtung im Polizeibezirk bildet seitdem der im Juni 1891 gegründete, auf dem Boden des neuen Programms stehende „Allgemeine Arbeiter-Verein für Magdeburg und Umgegend“ mit gegenwärtig etwa 1500 Mitgliedern.

Wenngleich in vielen Gewerkschaftsversammlungen es für Pflicht erachtet worden ist, dem „Allgemeinen Arbeiterverein“ beizutreten, um, wie man sich ausdrückt, „den reaktionären Klassen als imponierende Macht gegenüber zu stehen“, so wollen die Fachvereine, wie in meinem letzten Bericht bereits angedeutet worden ist, von einer Vertretung der rein gewerkschaftlichen Interessen in dem Arbeiter-Verein nichts wissen. Über diesen Punkt wird seit einiger Zeit viel debattiert. Die tonangebenden Führer der Sozialdemokratie sind der Meinung, daß die gewerkschaftliche Bewegung wohl ihren Nutzen habe, aber doch nicht zu überschätzen sei. Dieselbe könne nur dann auf einen dauernden Erfolg rechnen, wenn die gesamte organisierte Arbeiterwelt hinter ihr stehe. Dies ist auch der Grund, weshalb die im Arbeiter-Verein dem Statut gemäß gewählt gewesene Gewerkschafts-Kommission durch Versammlungsbeschluß aufgelöst worden ist. Durch denselben Beschluß ist aber der Vorstand verpflichtet worden, den einzelnen Vereinsmitgliedern bei Gründung von Gewerkschaften Rat zu erteilen, sowie Besprechungen über soziale und wirtschaftliche Probleme neben den politischen herbeizuführen.

Die von dem Verein im Oktober 1891 in Scene gesetzte Lehrlingsstatistik, für welche Formulare nach beiliegendem Muster verteilt worden sind, hat bisher ein praktisches Resultat nicht aufzuweisen.

In der Errichtung ist begriffen die im Staut vorgesehene Fortbildungsschule, in welcher im Deutschen, in der Naturwissenschaft und Geschichte unterrichtet werden soll.

Die Diskutier-Klubs haben im letzten halben Jahre eine nennenswerte Tätigkeit nicht entwickelt. Der Hauptzweck Agitatoren auszubilden, ist bisher nicht erreicht. Die Landagitation ist im verflossenen Halbjahr nur wenig betrieben worden, es fehlten hauptsächlich die Mittel zur Deckung der Unkosten.

Von den neuerstandenen Fachvereinen ist hervorzuheben die Filiale des „Central-Vereins deutscher Former sowie aller in der Eisen- und Metall-Industrie beschäftigten Arbeiter in Magdeburg“ mit dem Hauptsitz in Lübeck.

Die Zentralisation der Former, geleitet von dem Reichstagsabgeordneten Schwarz in Lübeck, nimmt zu den anderen gewerkschaftlichen Organisationen eine Sonderstellung ein. Die Former haben es in erster Linie abgelehnt, sich dem „Deutschen Metallarbeiter-Verband“ anzuschließen. Sie sind auch gegen die geplanten Unionen, das heißt gegen eine Zusammenfassung der sämtlichen verwandten Berufszweige zu einem Ganzen.

Die sonstigen hier bestehenden Vereine haben ihre in meinem vorigen Bericht angedeutete Tendenz nicht geändert. Sie verhalten sich abwartend und hoffen zum Teil, daß der in diesem Monat in Halberstadt stattfindende Gewerkschaftskongreß, zu welchem auch hier Delegierte gewählt worden sind, neues Leben in die Gewerkschaftsbewegung bringen werde.

2. Agitation

In der Berichtsperiode sind abgehalten worden 20 große öffentliche Volksversammlungen, in welchen 6 auswärtige Agitatoren referiert haben. Als Hauptthemata sind hervorzuheben: „Die Entwicklung des Sozialismus“, „Unsere politische Lage“, „Die Sozialdemokratie und ihre Gegner“, „Das Volksschulgesetz und die liberalen Parteien“, „Die Gewerbegerichte und die Sozialdemokratie“.

Zwei dieser Versammlungen waren besonders für Frauen bestimmt. In denselben sprach die Sozialdemokratin Wilhelmi über „Die Pflichten und Rechte der Frauen“. Im Durchschnitt betrug die Anzahl der der öffentlichen Versammlungen besuchenden Männer 50 bis 2500, die der Frauen 10 bis 150.

Der Allgemeine Arbeiter-Verein hielt 18 Versammlungen ab, die von 70 bis 600 Personen besucht waren. In den Versammlungen wurde namentlich besprochen: „Die Taktik der Sozialdemokratie“, „Der herrschende Notstand als Konsequenz der bestehenden Gesellschaftsordnung“, „Die Bourgeoisie und die Arbeiter-Partei“, „Die degenerierenden Wirkungen der kapitalistischen Wirtschaftsweise“.

Von den Versammlungen ist besonders hervorzuheben die vom 26. Oktober 1891, in welcher der Schriftsteller Peus referierte und sich der Majestätsbeleidigung schuldig machte. Er sagte unter anderem „Wenn die Könige erst einmal Vernunft annehmen, dann wird die Sozialdemokratie schon mit ihnen fertig werden.“ Peus ist vom hiesigen Landgericht mit 2 Jahren Gefängnis bestraft worden. Zur Zeit schwebt die Angelegenheit noch in der Revisionsinstanz.“

Gewerkschaftliche Versammlungen sind in der Berichtszeit etwa 170 abgehalten worden. Auch in ihnen sind zum Teil politische Tagesfragen nach sozialdemokratischer Tendenz behandelt, zur Erörterung gekommen.

In der Zeit vom 7. bis 9. Februar dieses Jahres fand hierselbst ein Kongreß der Bürsten- und Pinselmacher Deutschlands statt, auf welchem u.a. auch der Agitator Wilke aus Berlin über „Koalitionsfreiheit und das Recht der Behörden“ referierte.

Der bekannte Agitator Bremer ist für den Stadtteil Buckau als Stadtverordneter gewählt worden.

3. Die Presse

Die hier erscheinende sozialdemokratische Zeitung „Volksstimme“ hat seit dem 1. Januar d. Js. infolge eingetretener Preiserhöhung nur noch etwa 5000 Abonnenten. Ihre Haltung im politischen Teil ist dieselbe geblieben, wie früher. Der lokale Teil hat seit dem Austritt des radikalen Mitarbeiters Köster eine etwas gemäßigter Färbung angenommen. Die „Landpost“ wird seit dem 1. Januar d. J. hier nicht mehr hergestellt.

Neben der „Volksstimme“ werden hier einige Exemplare des „Vorwärts“, einige der „Volkstribüne“ und einige der „Gazeta Rabotnicza“ gelesen.

Die in Hamburg erscheinende Zeitung „Arbeiterin“ ist wieder eingegangen, und an ihre Stelle die in Stuttgart herausgegebene „Gleichheit.  Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“ getreten. Sie hat hier nur wenige Abonnenten. Die sonstige sozialdemokratische Literatur ist dieselbe geblieben.

4. Maßregeln

Die Haltung der „Volksstimme“ führte zu mehreren richterlicherseits angeordneten Beschlagnahmen der noch vorhandenen Nummern und zur Einleitung von Strafverfahren gegen den verantwortlichen Redakteur und Verleger. Gegen den Ersteren schwebt unter anderem auch noch ein Verfahren wegen Majestätsbeleidigung.

Der Verleger Meyer ist wegen Vergehen gegen die §§110, 111 und 186 des Strafgesetz-Buches mit 9 Monaten und 14 Tagen Gefängnis, sowie mit Geldbuße bestraft worden.

Die vom Zeitungsverlag „Volksstimme“ vertriebenen Druckschriften „Anti-Syllabus“, „Ceterum censeo“ und „Socialdemokratischer Deklamator“ sind, weil ihr Inhalt gegen die §§95, 130, 131 und 166 des Strafgesetzbuches verstößt, durch richterliche Erkenntnis eingezogen worden.

Der Redakteur Köster ist am 6. November 1819, nachdem er wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften in der „Volksstimme“ abermals mit 4 Monaten Gefängnis bestraft worden ist, nach der Schweiz flüchtig geworden.

B. Die sogenannten unabhängigen Sozialisten im Polizeibezirk

1. Organisation

Nach den Vorgängen im Oktober und November 1891 haben die Radikalen dem Vorgehen in Berlin folgend, hierselbst einen „Verein der unabhängigen Sozialisten für Magdeburg und Umgegend“ gegründet, über welchen ich bereits am 22. November 1891 – III A 1635 – besonders berichtet habe.

Die Mitgliederzahl ist unverändert geblieben.

2. Agitation

Von den wenigen abgehaltenen Versammlungen der „Unabhängigen“, in welchen bis zu 100 Männer und 30 Frauen anwesend gewesen sind, ist nur diejenige zu erwähnen, in welcher ein Berliner Agitator über den „Sozialismus und Anarchismus“ referierte. Er bekämpfte die Diktatur der sozialdemokratischen Parteileitung und meinte, daß mit dem Parlamente nichts geschafft werde. Die Gewerkschaftsbewegung sei nicht zu unterschätzen, wegen ihres Eindruckes auf die Produktion. Das Kleinbürgertum müsse zu Grunde gehen, und die Inscenierung internationaler Streiks würde die ganze Bewegung dem Ziele schon näher bringen.

Diesen Standpunkt vertreten auch die hiesigen Unabhängigen. Sie geben sich der Hoffnung hin, daß es mit der Zeit gelingen werde, sich als Keil in die sozialdemokratische Bewegung gemäßigter Richtung hierselbst hineinzuschieben.

In den Versammlungen der Letzteren verlangen die Unabhängigen provozierend die ausdrückliche Kundgebung der letzten Ziele der Sozialdemokratie und bemühen sich, sich bei Abhaltung von Vergnügungen näher aneinander zu schließen. Diesem Zweck soll namentlich der für gemischten Chor errichtete Gesangverein „Eintracht“ dienen, welcher viele Mitglieder der einzelnen Gesangsgruppen des „Allgemeinen Arbeiter-Vereins“ beigetreten sind.

3. Die Presse

„Der Sozialist“ kommt immer noch in etwa 200 Exemplaren hierselbst zur Verbreitung. Exemplare des anarchistischen Blattes „Die Autonomie“ kommen im Polizeibezirk nur ganz vereinzelt vor.

C. Allgemeines

Der allgemeine Ausstand der Deutschen Buchdrucker hat auch hier die gesamte Sozialdemokratie lebhaft beschäftigt. Die Führer derselben glauben, aus dem verunglückten Vorgehen die Lehre ziehen zu müssen, daß eine noch so gute gewerkschaftliche Organisation, wie die der Buchdrucker zweifellos gewesen ist, nicht kräftig genug sei, um gegen den vereinigten Kapitalismus wirksam ankämpfen zu können.

Die hiesigen ausständigen Buchdrucker befanden sich unter sozialdemokratischer Führung, die Mehrzahl hat sich, den planmäßigen Verhetzungen folgend, nach dem Mißlingen des Ausstandes der Sozialdemokratie angeschlossen in der Hoffnung, daß aufgeschoben nicht aufgehoben sei.

Die hiesige Sozialdemokratie hat etwa 1200 M an Unterstützungen für die Buchdrucker aufgebracht, und sich ferner verpflichtet, die ausgesperrten Genossen noch weiterhin zu unterstützen. ##Die Arbeitslosigkeit ist von den Sozialdemokraten für ihre Zwecke ausgenutzt. Die von sozialdemokratischen Führern einberufenen und geleiteten Versammlungen der Arbeitslosen boten ein buntes Bild von Bauhandwerkern, sonstigen stellenlosen Personen und arbeitsscheuen Individuen.

In den am 18. und 30. Dezember 1891 und am 8. und 16. Januar d. J. abgehaltenen Versammlungen waren 500, 1200, 800 und 700 Personen anwesend. Eine in der Versammlung gewählte Kommission wurde beauftragt, mit dem hiesigen Magistrat über Abstellung der Arbeitslosigkeit zu verhandeln. Gleichzeitig fand eine Resolution einstimmig Annahme, nach welcher die Arbeitslosigkeit nur durch Umwandlung der Produktivmittel in Gesellschaftseigentum beseitigt werden könne.

Die Stadtverordnetenversammlung bewilligte auf Antrag die Summe von 51 000 Mark zur Ausführung von Erdarbeiten im Nordfrontgelände mit der Maßgabe, bei denselben nur hier seßhafte Arbeiter anzustellen. Es wurden nach und nach etwa 1500 Mann angenommen, und ein Stundenlohn von 20 Pfennigen bewilligt. Im Februar fand eine Nachbewilligung von 30 000 M. statt.

Der Lohnsatz wurde in den Arbeitsversammlungen von der sozialdemokratischen Führung als zu niedrig bezeichnet, und ein solcher von 30 Pfennigen pro Stunde verlangt. An den Arbeitsstellen fanden mit eingestellte Sozialdemokraten Gelegenheit, ihre Mitarbeiter aufzustacheln, sodaß an den Lohntagen der drohenden Möglichkeit von Ausschreitungen durch Anordnung besonderer polizeilicher Maßnahmen entgegen getreten werden mußte.

Während die hiesige „Volksstimme“ dem tonangebenden „Vorwärts“ folgend, in Hinblick auf die in Berlin vorgekommenen Tumulte zur Ruhe mahnte, hüllten sich die sozialdemokratischen Führer hierselbst in Schweigen. Dieses Schweigen läßt darauf schließen, daß die Agitatoren nicht im Stande sind, das sogenannte „Lumpenproletariat“ von ihren Rockschößen abzuschütteln. Die Unabhängigen sind in dieser Beziehung ehrlicher. Sie betrachten sich als Beschützer des Lumpenproletariats und weisen darauf hin, daß die Sozialdemokratie gefaßt sein muß, vom Hungerproletariat schließlich verschlugen zu werden.

Das Gehenlassen auf der einen und das Hetzen auf der anderen Seite kennzeichnet die Situation. Dieselbe erfordert ein wachsames Auge der Behörden und die strengste Handhabung der bestehenden Gesetze und Verordnungen.

Eine Abnahme der sozialdemokratischen Bewegung im Polizeibezirk ist vor der Hand nicht wahrscheinlich, namentlich solange nicht, als es der Partei-Presse möglich bleibt, fortgesetzt den Klassenhaß zu schüren, und die berufsmäßigen Agitatoren Gelegenheit haben, in den Versammlungen die Ziele der Sozialdemokratie zu verherrlichen.

Von besonderen Schritten der Arbeitgeber zur Hebung der materiellen Lage des Arbeiterstandes in der Berichtszeit ist nichts zu erwähnen.

Der Polizeipräsident Keßler