August Bebel

Brief an die sozialdemokratische Reichstagsfraktion

Plauen-Dresden, den 5. April 1885

An die sozialdemokratische Fraktion des Reichstags!

Nachdem mir die Erklärung der Fraktion gegen die Redaktion des „Sozialdemokrat“ in Nr. 14 im Wortlaut vorliegt und sich die Tragweite derselben genau beurteilen lässt, sehe ich mich zu folgender Verwahrung veranlasst.

Obgleich im Absatz 5 jener Erklärung die Fraktion den Grundsatz ausspricht, dass sie „der Redaktion und den Korrespondenten des Parteiorgans keineswegs das Recht einer selbständigen Kritik“ bestreite, wird dieser Grundsatz durch die nachfolgenden Sätze vollkommen aufgehoben. Denn wenn verboten wird, eine Kritik zu veröffentlichen, welche geeignet ist, die Fraktionshaltung und die Fraktionsbeschlüsse „in den Augen der fernerstehenden Parteigenossen herabzusetzen“, so wird damit überhaupt jede Kritik verboten, denn jede Kritik, die sich gegen Handlungen und Beschlüsse der Fraktion wendet, ist geeignet, die letztere in den Augen der Parteigenossen herabzusetzen; es gibt keine Kritik, die nicht in diesem Sinne ausgelegt werden könnte.

Durch diese Erklärung wirft sich die Fraktion zum absoluten Herrscher über die Haltung des Parteiorgans auf. „Der Sozialdemokrat“ ist danach nicht mehr Parteiorgan, sondern Fraktionsorgan, den Parteigenossen ist jede Meinungsäußerung, die der Fraktion unangenehm oder unbequem ist, untersagt, und die Pressfreiheit, die das Programm für alle fordert, ist für die eignen Parteigenossen eine leere Phrase.

Ein solcher Zustand ist unter den heutigen Verhältnissen um so bedenklicher, da „Der Sozialdemokrat“ das einzige wirkliche Parteiorgan ist und die Genossen, welche in einem gegebenen Fall von der Fraktionsansicht abweichende Meinungen vertreten wollen, jedes legalen Mittels, ihre Meinungen zu vertreten, beraubt sind.

Wenn eine moderne Regierung es wagen würde, in solch unerhörter Weise ihren Untertanen die Pressfreiheit zu beschneiden, so würde sich ein Sturm der allgemeinsten Entrüstung gegen dieselbe erheben; hier aber spricht die Fraktion, welche der Partei gegenüber die Stelle der Regierung vertritt, mit der größten Kaltblütigkeit Grundsätze aus, die jeder Meinungsfreiheit ins Gesicht schlagen.

Nach meiner Auffassung hat die Fraktion mit dem Verbot der Veröffentlichung ihr nicht konvenierender Meinungen und Kritiken ihre Kompetenz weit überschritten. Ich halte mich deshalb für verpflichtet, gegen diesen Schritt der Fraktion zu protestieren und zu erklären, dass ich mich an jene Kundgebung als Parteigenosse nicht gebunden erachte und dass der erste Versuch der Fraktion, dem in ihrer Erklärung ausgesprochenen Grundsatz der Unterdrückung der Meinungsäußerung im Parteiorgan praktisch Geltung zu verschaffen, mich veranlasst, die Konsequenzen einer solchen Handlung zu ziehen und gegebenen Falles an die Partei zu appellieren.

Mit bestem Gruß

A. Bebel