Was soll am 1. Mai geschehen?

Aus: Berliner Volks-Tribüne Nr. 12, 22. März 1890

Nur noch eine kurze Spanne Zeit trennt uns von diesem Tage. Es ist daher notwendig, mit aller Kraft die Agitation zur Feier der Achtstundenbewegung in die Hand zu nehmen, die Massen aufzuklären, damit der Sieg der Arbeiterschaft am 1. Mai sich mit dem vom 20. Februar [1] deckt.

Die Agitation für die Verkürzung der Arbeitszeit ist jetzt um so notwendiger, da auf dem Programm der internationalen Arbeiterschutz-Konferenz sich nichts findet, was die Einführung eines Maximalarbeitstages bedingt. Zeigen wir daher, dass wir die Verkürzung der Arbeitszeit wollen.

Wie kann dies geschehen?

In allen Industriestädten, in denen starke Organisationen bestehen, ist der 1. Mai ein Feiertag. Alle Gewerke ruhen! Die Unternehmer sind hiervon rechtzeitig zu benachrichtigen. Im Laufe des Vormittags finden öffentliche Versammlungen statt mit der Tagesordnung: „Die Achtstundenbewegung.“ Der Nachmittag gehört der Familie. Hinaus ins Freie!

In allen anderen Orten, in denen keine ausgeprägt starken Arbeiter-Organisationen bestehen, der Proklamierung des Feiertags Schwierigkeiten im Wege stehen, mag irgend einer der Interessenten zu einer den Verhältnissen des Ortes entsprechenden Zeit ebenfalls eine öffentliche Versammlung mit dem gleichen Thema einberufen.

Also: überall, in dem kleinsten Flecken Deutschlands, am 1. Mai öffentliche Versammlungen, das gleiche Thema und die gleiche Begeisterung für die Verkürzung der Arbeitszeit!

Die in den Versammlungen zu fassenden Resolutionen sind mit Angabe der Anzahl der Beteiligten an die Arbeitervertreter im Reichstage zu senden.

Ferner: In allen Versammlungen arrangiere man eine Massenpetition, das Material kann durch die Expedition der „Berliner Volks-Tribüne“ im Laufe der nächsten Woche bezogen werden. Sollten wider Erwarten die Versammlungen verboten werden, so ist dennoch die Unterschriftensammlung vorzunehmen und die ausgefüllten Petitionsbögen mit Angabe der Gründe des Verbotes der Versammlung sind an die Unterzeichneten einzusenden.

 

1 ½ Millionen Stimmen am 20. Februar!
2 Millionen Unterschriften am 1. Mai!

Das sei die Parole.

 

Berlin, Ende März 1890

 

Th. Glocke, Expedient, Lausitzerstr. 52, III; M. Baginsky, Schuhmacher, City-Passage; Alb. Schmidt, Buchdrucker, Oranienstr. 23; W. Schweitzer, Maler, Dennewitzstr. 26; Julius Wernau, Maurer, Zionskirchplatz 2; E. Wiedemann, Tischler, Wendenstr. 2, IV; Oskar Wilcke, Gürtler, Stralauer Brücke 4, Quergeb. IV; Fritz Zubeil, Tischler, Waldemarstr. 72; Max Schippel, Redakteur, Friedrichshagen; J. Hartmann, Metallarbeiter, Reichenbergerstr. 73.


[1] Bei den Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890 wurde die Sozialdemokratie mit ca. 1,4 Millionen Stimmen stärkste Partei, ihr Stimmenanteil verdoppelte sich seit den Wahlen von 1887 annähernd auf 19,7%.