Organisationsentwurf für die sozial-demokratischen Partei Deutschlands

Berliner Volks-Tribüne Nr. 32 vom 9. August 1890

Parteigenossenschaft

§1 Parteigenosse ist jede Person, die das Parteiprogramm anerkennt und die Partei dauernd materiell unterstützt.

§2 Zur Partei kann nicht gehören, wer sich eines groben Verstoßes gegen die Grundsätze des Parteiprogramms oder wer sich ehrloser Handlungen schuldig gemacht hat oder der Partei dauernd die materielle Unterstützung versagt.
Über die Zugehörigkeit zur Partei oder den Ausschluss aus derselben entscheiden die Parteigenossen der einzelnen Parteiorte oder Reichstagswahlkreise.
Gegen die Entscheidungen steht den Betroffenen die Berufung an den Parteivorstand (§13) und den Parteitag zu (§7 und 11).

Vertrauensmänner

§3 Die Parteigenossen in den einzelnen Reichstags-Wahlkreisen wählen in den öffentlichen Versammlungen zur Wahrnehmung der Parteiinteressen einen oder mehrere Vertrauensmänner. Die Art der Wahl dieser Vertrauensmänner ist Sache der in den einzelnen Kreisen wohnenden Genossen.
Insofern der Wahlkreis durch einen Ort oder durch Teile eines Ortes gebildet wird, ist nur ein Vertrauensmann zu wählen; besteht dagegen der Wahlkreis aus mehreren Orten, so kann für jeden Ort ein Vertrauensmann gewählt werden.

§4 Die Wahl der Vertrauensmänner erfolgt in der Regel alljährlich und zwar im Anschlusse an den voraufgegangenen allgemeinen Parteitag.
Die Vertrauensmänner haben ihre Wahl mit Angabe ihrer genauen Adresse sofort dem Parteivorstande mitzuteilen.

§5 Tritt ein Vertrauensmann zurück oder tritt sonstwie eine Vakanz ein, so haben die Parteigenossen umgehend eine Neuwahl vorzunehmen und davon entsprechend §4 Absatz 2 dem Parteivorstand Mitteilung zu machen.

Parteitag

§6 Alljährlich einmal findet ein Parteitag statt, der von dem Parteivorstand einzuberufen ist.
Hat der vorhergehenden Parteitag über den Ort, an welchem der nächste Parteitag stattfinden soll, keine Bestimmung getroffen, so muss der Parteivorstand mit der Reichstagsvertetung hierüber sich verständigen.

§7 Die Einberufung des Parteitages muss spätestens 4 Wochen vor dem Termin der Abhaltung desselben durch das offizielle Parteiorgan mit Angabe der provisorischen Tagesordnung erfolgen. Die Einladung zur Beschickung des Parteitags ist mindestens dreimal in Zwischenräumen von je 2 Tagen zu wiederholen.
Anträge der Parteigenossen, die später als 14 Tage vor der Abhaltung des Parteitages bei dem Parteivorstand eingehen, können nur dann auf dem Parteitag beraten werden, wenn mindestens 15 Vertreter sich dafür erklären. Dasselbe ist der Fall mit selbständigen Anträgen, die während der Verhandlungen des Parteitags eingebracht werden.

§8 Der Parteitag bildet die oberste Vertretung der Partei. Zur Teilnahme an demselben sind berechtigt:

1. die Delegierten der Partei aus den einzelnen Wahlkreisen mit der Einschränkung, dass in der Regel kein Wahlkreis durch mehr als 3 Personen vertreten sein darf.
2. Die Mitglieder der Reichstags-Fraktion
3. die Mitglieder des Parteivorstandes.

Die Mitglieder der Reichstags-Fraktion und des Parteivorstandes haben in allen die parlamentarische und die geschäftliche Leitung der Partei betreffenden Fragen nur beratende Stimme.

Der Parteitag prüft die Legitimation seiner Teilnehmer, wählt seine Leitung und bestimmt seine Geschäftsordnung selbst.

§9 Zu den Aufgaben des Parteitages gehören:

- Entgegennahme des Berichts über die Geschäftstätigkeit des Parteivorstandes und über die parlamentarische Tätigkeit der Abgeordneten.
- Die Bestimmung des Orts, an welchem der Parteivorstand ihren Sitz zu nehmen hat.
- Die Wahl des Parteivorstandes.
- Die Beschlussfassung über die Parteiorganisation und alle das Parteileben berührende Fragen.
- Die Beschlussfassung über die eingegangenen Anträge.

§10 Ein außerordentlicher Parteitag kann einberufen werden:

- durch den Parteivorstand;
- auf Antrag der Reichstags-Fraktion;
- auf Antrag von mindestens 15 Wahlkreisen und durch Namensunterschriften von mindestens 10.000 Parteigenossen.

Falls der Parteivorstand sich weigert, einem Antrag auf Einberufung eines außerordentlichen Parteitages stattzugeben, so ist derselbe durch die Reichstags-Fraktion einzuberufen. Als Versammlungsort eines außerordentliche Parteitags ist ein geografisch möglichst günstig gelegener Ort zu bestimmen.

§11 Die Einberufung des außerordentlichen Parteitages muss spätestens 14 Tage vor dem Term in der Abhaltung desselben durch das offizielle Parteiorgan in wenigstens drei aufeinanderfolgenden Nummern mit Angabe der Tagesordnung erfolgen.
Anträge der Parteigenossen sind spätestens 7 Tage vor der Abhaltung des Parteitags im offiziellen Parteiorgan zu veröffentlichen.
Im übrigen gelten für die außerordentlichen Parteitage die selben Bestimmungen wie für die ordentlichen Parteitage (§§ 7-9).

Parteivorstand

§12 Der Parteivorstand besteht aus 5 Personen und zwar aus einem Vorsitzenden, zwei Schriftführern, einem Kassierer und einem Beisitzer.
Die Wahl dem Parteivorstanderfolgt durch den Parteitag mittels Stimmzettel und auf Grund absoluter Stimmenmehrheit. Erhält ein Kandidat im ersten Wahlgang nicht die absolute Mehrheit, so erfolgt engere Wahl zwischen den beiden Kandidaten, welche die meisten Stimmen auf sich vereinigten. Bei Stimmengleichheit entscheidet das Los.

§13 Der Parteivorstand besetzt die Ämter aus seiner Mitte und hat seine Konstituierung im offiziellen Parteiorgan anzuzeigen. Die Mitglieder des Vorstandes können für ihre Tätigkeit eine Besoldung beziehen. Die Höhe derselben setzt der Parteivorstand in Übereinstimmung mit der Reichstagsfraktion fest.

§14 Der Parteivorstand leitet die Parteigeschäfte; er beruft die Parteitage und erstattet auf denselben über seine Tätigkeit Bericht. Er kontrolliert die prinzipielle Haltung der Parteiorgane.

§15 Eintretende Vakanzen im Parteivorstand werden durch eine Ersatzwahl, welche die Reichstags-Fraktion vorzunehmen hat, behoben. Bei der Abstimmung entscheidet die einfache Majorität.

Kontrolle

§16 Die Überwachung der Geschäftsleitung des Parteivorstandes wird durch die Reichstags-Fraktion ausgeübt.
Die Fraktion ernennt zu diesem Behufe einen, aus fünf Mitgliedern bestehenden Ausschuss, von welchem alle den Parteivorstand betreffenden Beschwerden zu prüfen und zu entscheiden sind.

§17 Die Fraktion hat das Recht, jederzeit Einsicht in die Akten und Geschäftsbücher des Parteivorstandes zu nehmen und Auskunft über seine Handlungen zu verlangen.

§18 Vorstandsmitglieder, welche sich grobe Pflichtwidrigkeiten zu Schulden kommen lassen, können durch die Fraktion von ihrer Stellung enthoben werden. Dadurch notwendig gewordene Ersatzwahlen finden nach den Vorschriften des §15 statt.
Den Vorstandsmitgliedern steht gegen ihre Absetzung das Recht der Berufung an den Parteitag zu.

Partei-Organ

§19 Zum offiziellen Parteiorgan wird das „Berliner Volksblatt“ bestimmt. Dasselbe erhält vom 1. Januar 1891 ab den Titel:

„Vorwärts. Berliner Volksblatt. Zentralorgan der sozial-demokratischen Partei Deutschlands“

Alle offiziellen Bekanntmachungen sind an hervorragender Stelle des redaktionellen Teils zu veröffentlichen.

Abänderung der Organisation

§20 Änderungen an der Organisation der Partei können nur durch einen Parteitag vorgenommen [werden], doch muss die absolute Mehrheit der anwesenden Vertreter sich dafür erklären.

Anträge auf Abänderung der Organisation können nur beraten werden, wenn sie innerhalb der Fristen, welche die §§ 7 und 11 vorschreiben, zur öffentlichen Kenntnis der Parteigenossen gelangten.

Eine Abweichung von der letzteren Bestimmung ist nur dann zulässig, wenn mindestens ¾ der anwesenden Vertreter auf einem Parteitag sich für die Abweichung entscheiden.