Erklärung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion vom 20. März 1885 gegen die Kritik des "Sozialdemokrat" an der Fraktion

"Der Sozialdemokrat" Nr. 14, 2. April 1885

In der letzten Zeit, namentlich im Monat Januar d. J., waren im "Sozialdemokrat" mehrfach offene und versteckte Angriffe gegen die sozialdemokratische Fraktion des deutschen Reichstags zu lesen.

Diese Angriffe gingen teils von der Redaktion, teils von Korrespondenten des Blattes aus.

Sie bezogen sich vorzugsweise auf das Verhalten der sozialdemokratischen Reichstagsmitglieder in der Frage der Dampfersubvention. Auch ist eine Resolution der Züricher Genossen, die sich gegen die Haltung der Fraktionsmehrheit in dieser Frage aussprach, nicht bloß im Parteiorgan veröffentlicht, sondern auch in Einzelabzügen in Deutschland verbreitet worden, offenbar in der Absicht, eine Art "Entrüstungsbewegung" gegen die Fraktionsbeschlüsse hervorzurufen.

Wenngleich die sozialdemokratische Reichstagsfraktion weiß, dass durch derartige Angriffe ihre Stellung nicht erschüttert werden kann, so betrachtet sie doch ein solches Verfahren für durchaus ungehörig.

Sie bestreitet der Redaktion und den Korrespondenten des Parteiorgans keineswegs das Recht einer selbständigen Kritik; sie erachtet es aber für eine schwere Schädigung der Parteiinteressen, wenn die Beschlüsse der Abgeordneten in einer Weise besprochen werden, welche geeignet ist, die Fraktion in den Augen der fernerstehenden Parteigenossen herabzusetzen.

Das Parteigefühl unserer Genossen, an welches wir appellieren, muss ihnen sagen, dass ein solches Verfahren geeignet ist, die Aktionsfähigkeit der Partei zu vermindern und in wichtigen Momenten gar zu lähmen.

Statt den gewählten Vertretern der Arbeitersache auf solche Weise den schwierigen Kampf gegen übermächtige Feinde noch zu erschweren, sollte jeder Parteigenosse bestrebt sein, den Keim der Zwietracht zu ersticken und das Band der Eintracht fester und fester zu knüpfen.

Insbesondere ist es Pflicht der Redaktion des "Sozialdemokrat", in diesem Geiste zu wirken und nie zu vergessen, dass das Parteiorgan unter keinen Umständen in Gegnerschaft zur Fraktion treten darf, welche die moralische Verantwortlichkeit für den Inhalt desselben trägt.

Nicht das Blatt ist es, welches die Haltung der Fraktion zu bestimmen, sondern die Fraktion ist es, welche die Haltung des Blattes zu kontrollieren hat.

Die Fraktion erwartet demgemäß, dass derartige Angriffe in Zukunft unterbleiben und dass die Redaktion alles vermeide, was dem Geiste obiger Erklärung zuwiderläuft.

Berlin, den 20. März 1885

Die sozialdemokratische Fraktion des deutschen Reichstags