Gemeinsame Erklärung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion und der Redaktion des "Sozialdemokrat" vom 23. April 1885 über den "Sozialdemokrat" als Organ der Gesamtpartei

"Der Sozialdemokrat" Nr. 17, 23. April 1885

Eine Erklärung der Redaktion des "Sozialdemokrat", weiche in voriger Nummer den auswärtigen Genossen die Gründe der verzögerten Veröffentlichung ihrer Einsendungen mitteilte, ist durch den Abdruck der vorstehenden Erklärungen gegenstandslos geworden.

Etwa noch einlaufende, auf diese Angelegenheit bezügliche Kundgebungen aus den Reihen der Parteigenossen werden in den nächsten Nummern mitgeteilt werden. Wir hoffen aber, dass inzwischen die Annahme, es habe die Fraktion durch ihre Erklärung einen Eingriff in das Recht der freien Meinungsäußerung beabsichtigt, von allen Genossen als Missverständnis erkannt sein wird.

Die Erklärung der Fraktion sollte einzig und allein den Zweck haben, die Einheit und Aktionsfähigkeit der Partei zu wahren und zu gleicher Zeit die über die Frage der Dampfersubvention entstandene Polemik zum Abschluss zu bringen.

Fraktion und Redaktion sind darin einig, dass innerhalb der Partei absolute Freiheit der Kritik obwalten muss und dass jeder Versuch, diese Freiheit zu beeinträchtigen, einen Verrat an den Parteiprinzipien bedeuten und die Grundlage, auf der die Partei ruht, erschüttern würde.

Fraktion und Redaktion sind aber auch darin einig, dass die Einheit und Aktionsfähigkeit der Partei unter allen Umständen gewahrt werden müssen und dass es durchaus zu verwerfen ist, wenn unter dem Vorwand, das Recht der freien Kritik auszuüben, der Versuch gemacht würde, der Parteileitung die Erfüllung ihrer Pflicht zu erschweren. Es darf nicht aus den Augen verloren werden, dass die sozialdemokratische Arbeiterpartei Deutschlands sich unter einem Ausnahmegesetz und damit in einem Ausnahmezustand, gewissermaßen in einem Kriegszustand befindet. Und der Kriegszustand bedingt eine straffe Zentralisation der Kräfte, welche ohne das Vertrauen der Genossen nicht zu verwirklichen ist. Die Parteivertretung vermag ihrer schwierigen Aufgabe nicht zu genügen, wenn sie nicht auf die Unterstützung der Genossen rechnen kann. Hat die Parteileitung in bezug auf eine bestimmte Angelegenheit einen Beschluss gefasst, so muss sie die Gewissheit haben, dass die Genossen mit vollem Vertrauen und ganzer Kraft hinter ihr stehen. Ist auch der eine oder andere vielleicht abweichender Meinung, so hat er sich der Vertretung der Gesamtheit taktisch unterzuordnen, gerade wie erforderlichenfalls innerhalb dieser Vertretung die Minorität sich der Majorität unterzuordnen hat. Geschieht dies nicht, so hört jede Organisation und jede Aktion auf. Das beste Korrektiv gegen etwaigen Missbrauch dieser Vertrauensstellung der Fraktion bietet eben den Genossen die absolute Meinungsfreiheit.

In der Streitfrage, welche zu der Erklärung in Nr. 14 Anlass gegeben hat, ging die Fraktion von der Überzeugung aus, dass die Züricher Resolution, welche die Genossen zu "Maßnahmen" gegen die Fraktion, d. h. gegen die Parteileitung, aufforderte, die Aktionsfähigkeit der Parteileitung und damit der Partei schmälern musste. Die Züricher Genossen bestreiten es, eine derartige Absicht gehabt zu haben, und werden in nächster Nummer die betreffende Erklärung veröffentlichen. Jedenfalls hat die Fraktion nur das Interesse der Partei im Auge gehabt. An eine Vergewaltigung irgendwelcher Art hat sie nicht gedacht, kann sich aber auch keine Vergewaltigung irgendwelcher Art gefallen lassen. Sie ist es der Partei schuldig, das ihr anvertraute Ehrenamt der Parteileitung in all seinen Konsequenzen auszuüben und gegen alle Angriffe zu verteidigen.

Über die Stellung der Fraktion zu dem Parteiorgan wird in den nächsten Nummern gesprochen werden, für heute nur so viel: Die Fraktion denkt nicht daran und kann nicht daran denken, den "Sozialdemokrat" als ihr persönliches Organ zu betrachten, mit dem sie nach Belieben schalten und walten kann. "Der Sozialdemokrat" gehört der Gesamtpartei und ist das Organ der Gesamtpartei. Die Gesamtpartei wird aber vertreten durch die Fraktion, die kraft ihres Amts als Parteivertretung naturgemäß die Kontrolle des Parteiorgans hat. In Bezug hiermit befindet sie sich im vollsten Einverständnis mit der Redaktion des Parteiorgans, und die Vorkommnisse, welche die Erklärung in Nr. 14 des "Sozialdemokrat" veranlassten, haben dieses Verhältnis brüderlichen Zusammenwirkens unberührt gelassen.