Der Kongress der deutschen Sozialdemokratie in Kopenhagen (29. März – 2. April 1883)

Delegierte

56 Delegierte mit 60 Mandaten sowie zusätzlich 4 Reichstags-Abgeordnete ohne Mandat

Tagesordnung

1. Allgemeiner Bericht über die Situation der Partei und daran unmittelbar anknüpfend Bericht über die gesammelten Unterstützungsgelder und deren Verwendung

2. Mitteilungen über den materiellen Stand des „Sozialdemokrat“

3. Bericht über die Tätigkeit der Reichstagsabgeordneten

4. Die Stellung der deutschen Sozialdemokratie zur Sozial-Reform

5. Die Verlängerung des Sozialistengesetzes. Die Taktik der Partei und die Haltung des „Sozialdemokrat“

6. Die Reichstagswahlen

7. Organisation und Agitation für dieselben

8. Besondere Anträge der Kongressmitglieder

Diskussion

Eingangs wurde von Bebel festgestellt, dass „sich die Gesamtlage der Partei wie die Lage der Verhältnisse überhaupt sehr zu Gunsten der Partei in Deutschland verbessert habe.“ [P, S. 8] Es gab einige Erleichterungen durch die laxere Handhabung des Sozialistengesetzes, so war das Verteilen von Stimmzetteln nicht mehr verboten, von Sozialisten einberufene Versammlungen konnten nicht mehr so einfach verboten werden, Sammlungen von Unterstützungsgeldern waren nicht mehr von vornherein untersagt. Die Verhängung des Belagerungszustandes über verschiedene Ort hat sich letztlich positiv für die Partei ausgewirkt, in diesen Orten sei „der Geist der Partei“ und die Verbreitung des „Sozialdemokrat“ am besten, zudem sei eine neue, Führerschicht herangewachsen, die die Ausgewiesenen erfolgreich vertraten.

Vom derzeitigen Reichstag erwartete man keine Aufhebung des Sozialistengesetzes [P, S. 24], ebenso wenig wie man sich irgendwelche Hoffnungen bzgl. der Durchführung der angekündigten Sozialreformen machte. [P, S. 24]

Zentrale Diskussionspunkte waren die Auseinandersetzungen um den Parlamentarismus im Allgemeinen und die Arbeit der Abgeordneten der Sozialdemokratie im Reichstag sowie das taktische Verhalten bei Wahlen im Besonderen.

Die letzten Wahlen (1881) wurden trotz Stimmenverlusten als Erfolg gewertet. Der Wahlkampf habe sich positiv auf den Geist der Genossen ausgewirkt, wodurch die wiederlegt worden seien, „die fortgesetzt predigten, sich der Beteiligung bei den Wahlen zu enthalten“. [P, S. 10] Zugleich wurde bemängelt, dass es einen „chronischen Mangel“ an geeigneten Kandidaten gebe, wodurch Doppelkandidaturen nicht zu vermeiden seien. [HP, S. 78f]

Es wurde die Taktik bei den Wahlen ausgiebig diskutiert und über das Verhalten bei Stichwahlen keine Einigkeit erzielt.

Es gab zahlreiche Kritik am Auftreten der Abgeordneten im Parlament, die von einer Vielzahl von Genossen als zu gemäßigt empfunden wurde. Von den Delegierten einer Konferenz mehrerer sächsischer Wahlkreise wurde eine Resolution eingebracht, die von Vollmar verfasst worden war und wie folgt lautete:

„Die Konferenz spricht sich entschieden gegen jederlei Nachgiebigkeit gegenüber den uns verfolgenden Klassen sowie gegen jede auf die Nachsicht der Behörden spekulierende Rücksichtnahme aus und fordert ein rücksichtslos prinzipientreues Vorgehen der Partei.

 Sie erklärt sich deshalb mit dem energischen Auftreten der Genossen Vollmar, Grillenberger und Liebknecht in den Reichstagsverhandlungen über den Belagerungszustand und der Aufhebung des Ausnahmegesetzes sowie mit der Gesamthaltung des Parteiorgans vollkommen einverstanden.“ [HP, 110]

Darum entspann sich eine kontroverse Diskussion. Kräcker warf den sächsischen Genossen „Mostianismus“ vor, worauf Vollmar erwiderte, dass in der aktuellen Situation, in der eine Revolution in absehbarer Zeit zu erwarten sei, keine gesetzgeberische Tätigkeit gefordert sei, sondern die Vorbereitung der Revolution – allerdings nicht in Mostscher Weise. [HP, S. 90] Diese Lageeinschätzung wurde vor allem von den Abgeordneten nicht geteilt, Hasenclever hielt sogar eine „demnächst ausbrechende Revolution  sogar für sehr bedauerlich“.  [HP, S. 91] Es wurde von einigen Delegierten betont, dass „nicht nur Meinungs- sondern auch prinzipielle Verschiedenheiten unter den Abgeordneten“ herrschten, was aber von der Mehrheit der Delegierten nicht geteilt wurde. Letztlich wurde die Resolution – mit Ausnahme das Auftreten im Reichstag betreffenden Teil – vom Kongress einstimmig angenommen.

Der allgemeine Tenor der Diskussion zum Parlamentarismus lässt sich mit den Worten eines Referenten zusammenfassen: „Wir sind keine parlamentarische Partei (…) wir sind aber auch keine Revolutionsmacher.“ [P, S. 4]

Der Redaktion des „Sozialdemokrat“, die sich einige Vorwürfe über eine zu radikale Schreibweise insbesondere von Abgeordneten anhören musste, wurde von der Mehrheit der Genossen und schließlich einstimmig vom Parteitag das Vertrauen ausgesprochen (s.o.). Seit dem Wydener Parteikongress von 1880 hatte sich die Anzahl der Abos vervierfacht, wodurch die Druckerei in Zürich-Hottingen gekauft werden konnte.

Es gab wieder einige Beschwerden über die Handhabung und angeblichen Missbrauch des Unterstützungswesens für verfolgte Parteigenossen. Zudem wurde die „übergroße Auswanderungslust der Ausgewiesenen“ [P, S. 14] bemängelt, wodurch die Kassen zu sehr in Anspruch genommen wurden. Nach aktuell gültiger Beschlusslage erhielten zu jener Zeit unverheiratete Ausgewiesene 6, verheiratete 12 Monate Unterstützung. [HP, S. 73]

Es wurde beschlossen, dass im „Sozialdemokrat“ vierteljährlich die eingegangenen Unterstützungsgelder quittiert werden müssen und eine 3köpfige Prüfungskommission für Unterstützungsgelder eingerichtet wird. Zudem wurde ein besonderer Dank an die amerikanischen Genossen ausgesprochen, von denen zahlreiche Spenden eingegangen waren. [P, S. 17]

Wichtige Beschlüsse

„Der Kongress fordert die Parteigenossen auf, unverzüglich in die Vorbereitung für die allgemeinen Reichstagswahlen einzutreten, Mittel in jeder geeigneten Form zu beschaffen und die Organisation in den einzelnen Wahlkreisen in Angriff zu nehmen oder zu vervollkommnen.“ [P, S. 19f]

„Der Kongress erwartet, dass bei den nächsten Reichstagswahlen die Aufstellung der Kandidaten nicht auf Vorschlag einzelner zu Rate gezogener Genossen stattfindet, sondern dass die Aufstellung einheitlich organisiert werde und durch Territorial-Wahlkonferenzen im Einvernehmen mit den betreffenden Wahlkreisen erfolge. Weiter soll das bei den letzten Wahlen verschiedentlich befolgte System der Aufstellung eines Kandidaten in einem Dutzend und mehr Wahlkreisen verlassen werden und sollen, namentlich für Zählkandidaturen, auch solche Genossen aufgestellt werden, welche zwar einen politisch weniger bekannten Namen haben, aber in ihren Kreisen Vertrauen genießen und eine hinreichend unabhängige Stellung einnehmen.“ [P, S. 20]

„Zur ersten Wahl stellt die Partei überall selbständig Kandidaten auf. Ein Kompromiss oder Zusammengehen mit irgend einer anderen Partei darf nirgends stattfinden.“ [P, S. 20]

Zum Verhalten bei Stichwahlen wurde ein Antrag, in dem die Parteigenossen zur generellen Wahlenthaltung verpflichtet werden, mehrheitlich abgelehnt. Damit bleibt die Beschlusslage von Wyden erhalten, nach der „im Allgemeinen Wahlenthaltung“ empfohlen worden war. [P, S. 21]

„Es sind nur solche Kandidaten aufzustellen, die unser Programm voll und ganz anerkennen und sich der Parteidisziplin unterordnen, indem sie sich verpflichten, an allen durch Gesamtbeschluss der Parteivertretung herbeigeführten Aktionen sich zu beteiligen.“ [P, S. 22]

„Die Gesamthaltung der Reichstagsabgeordneten unserer Partei entspricht dem Programm der Partei, weshalb der Kongress mit derselben sich einverstanden erklärt.“ [P, S. 30]

„Der Kongress erklärt, dass er in Bezug auf die sogenannte Sozialreform im deutschen Reiche weder an die ehrlichen Absichten noch an die Fähigkeit der herrschenden Klassen nach deren bisherigem Verhalten glaubt, sonder der Überzeugung ist, dass die sogenannte Sozialreform nur als taktisches Mittel benutzt wird, um die Arbeiter vom wahren Wege abzulenken.  

Der Kongress hält es aber für die Pflicht der Partei, resp. deren Vertreter in den Parlamenten, bei allen auf die ökonomische Lage des Volkes gerichteten Vorschlägen, gleichviel welchen Motiven sie entspringen, die Interessen der Arbeiterklasse energisch wahrzunehmen, selbstverständlich ohne dabei auch nur einen Augenblick auf die Gesamtheit der sozialistischen Forderungen zu verzichten.“ [P, S. 30f]

Quellen

Die Kongresse der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands unter dem Sozialistengesetz.

[P] Teil 1: Die Protokolle von 1880, 1883 und 1887

[HP] Teil 2: Erstveröffentlichungen der handschriftlichen Protokollaufzeichnungen von 1880, 1883 und 1887. Leipzig 1980