Matthias Becker

565 Proleten in die Luft

Die Explosionskatastrophe von 1921 im Stickstoffwerk Oppau

Wir wissen, von welch großer Bedeutung die Menschen aus dieser Landschaft für die Entwicklung der BASF waren - ein Menschenschlag, ausgezeichnet durch Einfallsreichtum, Selbstbewusstsein und Anpassungsfähigkeit.

Carl Wurster zum 100. Jubiläum der BASF über die Pfälzer

 

„Am 21. September 1921, morgens um 7 Uhr 23, unterbrach die Bahnhofsuhr Ludwigshafen ihren Kreislauf und legte auf die Sekunde den Moment fest, der ein großes Schicksal über Oppau auslöste und unendliches Leid in viele Familien brachte.“ So lyrisch beginnt die Beschreibung des Ludwigshafener Historikers K. Braun der bis dahin schrecklichsten Industriekatastrophe der Welt. Mindestens genauso lyrisch beginnt die Beschreibung des gleichen Ereignis aus anderer Perspektive: „Am Morgen dieses Tages wurde Carl Bosch durch einen dumpfen Knall in seinem wunderschönen Schloss Wolfsbrunnenweg auf einem Hügel über der Neckarstadt geweckt. Sofort weiß er: Das kann nur Oppau gewesen sein!“, schreibt der Bosch-Biograph Holdermann.

„Bilder der Zerstörung“

Was ist geschehen? Heimathistoriker Braun schreibt in seinem Buch „Geschichte von Oppau und Edigheim“ folgendes: „Das gewaltige Stickstoffwerk Oppau war mit seinen wichtigsten Bauten und mit dem größten Teil seines Gastdorfes (sic!) unter schauerlichen Detonationen in die Luft geflogen. Weit über den Kreis der unmittelbar Betroffenen hinaus verbreitete die furchtbare Katastrophe Furcht und Schrecken. Ein greller Blitz durchleuchtete den tauigen Herbstmorgen, der Boden erzitterte wie bei einem Erdbeben, ein rollender Donner folgte, dann abermals ein gewaltiger Blitz mit nachfolgenden unerhörten Explosionen. Häuser wankten, Mauern barsten und stürzten ein, Fensterscheiben klirrten. Entsetzte Menschen stürzten auf die Straßen, um unbekannten Gefahren zu entrinnen. Bald schrien Telegraph und Telefon das Schauderhafte in alle Welt und Extrablätter verbreiteten die Schreckenskunde von der furchtbaren Explosionskatastrophe: „4.000 Tonnen Ammonsulphatsalpeter flogen im Stickstoffwerk der BASF in die Luft!“ (…)

Über der Stätte des Unglücks lagerte eine ungeheure Wolke und es regnete eine graue, klebrige Masse, die sich weithin niederschlug. Eines der Silos des Stickstoffwerks, der Bau 110, war geborsten, mit seiner Bedachung in die Luft geflogen, in sich selbst zusammengestürzt. 80.000 Zentner Stickstoff, aus der Luft gewonnen, mit einem Schlag wieder zu Luft geworden! An der Stelle des Silos gähnte ein Erdloch von 125 Metern Länge, 90 Metern Breite und 19 Metern Tiefe, in dem sich langsam Grundwasser sammelte. Mehrere tausend Männer, Frauen und Kinder verwundet, blutüberströmt durch die Gassen und Plätze irrend oder in dumpf brütendem Erstarren auf den armseligen Resten ihre Habe sitzend - so hatten in wenigen Minuten Bild und Stimmung sich gewandelt rund um das gewaltige Industriewerk.“

Ähnlich alttestamentarisch die amtliche (!) Denkschrift der Stadt Ludwigshafen: „Umgeweht, auseinandergerissen ganze Straßenzüge, die Bedachungen der Häuser, der Stallungen und Scheunen weit fortgetragen, zerklüftet das Mauerwerk, entwurzelte Bäume darübergestülpt, zerschlissene Traghölzer, verbogene Eisenbahnschienen, kahl in die Luft ragend, darunter zerschmettert Mobiliar und Wirtschaftsgerät, übersät von Glasscherben, die in der Sonne blitzten, ängstlich brüllendes Vieh, heulende Hunde, verscheuchtes Vieh - ein endlos langes wüstes Trümmerfeld.“

Die Schäden beschränken sich aber keineswegs auf Oppau: „Mit welch geradezu elementarer Gewalt die Katastrophe hereinbrach, mag daraus hervorgehen, dass in den Städten Oggersheim, Frankenthal, Ludwigshafen und Mannheim, bis hinunter nach Worms, hinüber nach Heidelberg und in allen dazwischenliegenden Dörfern Mauern von Gebäuden rissen, Dächer abgedeckt, unzählige Scheiben eingedrückt, Tür- und Fensterrahmen aus ihrem Senkel verschoben wurden, die großen Spiegelfenster der Kaufhäuser in Splitter gingen, mit ihren Scherben die Gehsteige und Fahrwege derart füllten, dass zum Beispiel in Heidelberg der Verkehr der elektrischen Straßenbahn ins Stocken kam. Ein Augenzeuge berichtet, dass in Mannheim ganze Hügel zersplitterten Glases in den Straßen lagen und stellenweise herausgeflogene Fensterrahmen, Kellergitter, Balkonschienen, Reste von Blumenstöcken und Schaufensterinventar die Wege sperrten.“ (Karl Braun)

Doch Hilfe naht! Carl Bosch verzichtet auf sein Frühstück und eilt nach Oppau, wie uns Biograph Holdermann verrät: „Bosch ging zunächst in das Rathaus von Oppau, das noch teilweise stand und wo der Bürgermeister mit seinem Magistrat in unbeschreiblicher Aufregung versammelt war. Der Bürgermeister richtete gegen Bosch die heftigsten Vorwürfe und Anklagen, Bosch blieb völlig ruhig, erklärte sein volles Verständnis für die große Erregung.“ Mit anderen Worten, er nahm dem Bürgermeister seine Aufgeregtheit überhaupt nicht übel. Einer muss ja auch die Nerven behalten, denn die Ludwigshafnerinnen tun es nicht: „Ein Teil der Bevölkerung war in den ersten Unglücksstunden, als sich das Gerücht verbreitet hatte, dass noch weitere Explosionen bevorständen, mit Kindern, Ziegen und Geflügel aufs freie Feld gegen Oggersheim geflüchtet.“ (Karl Braun)

Wie sah es in der BASF selbst aus? „Wir betreten das Werk von Süden her, dort wo sich das massive Verwaltungsgebäude und der flache Bau der Beamtenwohnungen erheben. Die dicken neuen Betonmauern des Verwaltungsgebäudes haben dem Luftdruck standgehalten, nur die Fensterscheiben und was in den Räumen nicht ganz stabil war, ist völlig zertrümmert und durcheinander gewirbelt. Der Notbau der Beamtenwohnungen ist ein Bild der völligen Zerstörung. Die Außenwände und vollends das Dach sind vollständig weggerissen und durch sie blickt man in ein wüstes Gewirr von Einrichtungsgegenständen. Die Explosion hat schon in diesem vom Herd des Unglücks noch entlegenen Gebäude ihre Opfer gefordert. Ein Waschkrug steht in einem völlig demolierten Zimmer, von Blut über und über gerötet. (.) Neben diesem Silo lag die Ammoniaksulfatfabrik, der Bau 111. Hier ist das Bild der Zerstörung noch grauenvoller, weil hier die Trümmer sichtbar sind und nicht wie in dem Explosionstrichter alles untergegangen ist. Es ist die Stelle, wo die großen Retorten und ein Teil der Säuretürme lagen. Ein kleiner Berg erhebt sich da; breite Spalten durchfurchen ihn. Eisenbarren und Eisenstangen ragen aus ihm hervor, zertrümmerte Retortenwände bedecken ihn. Aus den Spalten aber steigt der graue und gelbe Rauch atemberaubend. Unsagbar hat hier die Explosion gewütet, keine Spur der Anlage ist in dem Chaos zu erkennen! Feuerwehrleute versuchen sich ihm zu nähren und richten kräftige Wasserstrahlen gegen das unter den Trümmern unsichtbar fortzehrende Feuer. Endlos ließen sich die Bilder der Zerstörung ausmalen.“ (Pfälzische Rundschau vom 22. September 1921)

An diesem Septembermorgen sterben 565 Menschen durch die Katastrophe, über 2.000 werden verletzt, über 7.000 obdachlos. Sie wurden, so BASF-Vorsitzender Carl Duisberg, „Opfer des ewigen Kampfes des Menschen mit den Naturkräften“. Ist das Größenwahn, wenn sich ein deutscher Unternehmer selbst zur Naturkraft erklärt?

Ursachen

Bei der Trauerfeier für diese Opfer auf dem Hauptfriedhof Ludwigshafen spricht Carl Bosch vor den offenen Gräbern: „Kein Kunstfehler und keine Unterlassungssünde hat die Katastrophe herbeigeführt. Neue, uns auch jetzt noch unerklärliche Eigenschaften der Natur haben all unseren Bemühungen gespottet. Gerade der Stoff, der bestimmt war, Millionen unseres Vaterlandes Nahrung zu schaffen und Leben zu bringen, hat sich plötzlich als grimmiger Feind erwiesen.“

Woher der Trauernde seine Sicherheit nimmt, bleibt sein Geheimnis. Immerhin ist die Produktionsanlage zerstört und alle Zeugen der Vorgänge in Bau 110 an jenem Septembermorgen sind ums Leben gekommen. Nur Bosch selbst lebt natürlich, und ihm ist´s unerklärlich. Nahrung für die Millionen des Vaterlands meint hier Kunstdünger, hergestellt durch die von Bosch entwickelte Ammoniaksynthese, dem Hochdruckverfahren, das beispielsweise in Bau 110 praktiziert wurde. Die Werksleitung ging nämlich davon aus, dass das Stickstoffdüngesalz Ammonsulfatsalpeter Ursache der Katastrophe war.

Aber: „Bei der Ammoniak-Synthese weiß man nie genau, was am Ende herauskommt: Dünger zum Leben oder Munition zum Sterben.“ (Otto Köhler) Denn Carl Bosch wusste sehr gut, dass sich die Ammoniaksynthese genauso gut oder besser (profitabler) zur Herstellung von Spreng- und Munitionsstoffen eignet. Als im I. Weltkrieg der deutschen Armee nach wenigen Monaten die Munition auszugehen drohte, war es das deutsche Chemiekartell (unter anderen BASF, Hoechst und Bayer, seit 1925 offiziell zur IG Farben zusammengefasst), die den angeschlagenen Krieg durch ihre Produktion von Ammoniak rettete, sowohl Grundstoff für Dünger als auch für Schießpulver. Erst durch das tägliche Massenmorden konnte die BASF bzw. die IG zum unvergleichlichen Industriegiganten Deutschlands werden, eben durch Kugeln für Volksfremde statt durch Nahrung für die Landsleute.

So ist die These vom explodierenden Kunstdünger, vertreten von der BASF-Werksleitung auch keineswegs unbestritten. Die „New York Times“ kommentierte damals das Ereignis: „Drei Jahre nach dem Waffenstillstand wurde die berüchtigte Anlage von Oppau durch die Explosion eines geheimnisvollen Stoffes in Stücke gerissen, und 3000 Menschen sind tot, verwundet oder vermisst. Der Professor aber (Fritz Haber, Miterfinder der Ammoniaksynthese) und die anderen Wissenschaftler wissen nicht, wie es geschehen konnte, können es nicht erklären. Es mag nie zur vollen Zufriedenheit ehrbarer Wissenschaftler erklärt werden, aber wenn man sich vor Augen hält, dass es in Deutschland noch immer eine Gruppe unverbesserlicher und reaktionärer Militaristen gibt, die nach einem neuen Krieg trachten, um ihre verhängnisvolle Macht wiederzuerlangen, und dass diese gefährlichen Reaktionäre die Entdeckung tödlicher Gase mit gewaltiger Wirkung durch ihre Chemiker begrüßen würden, ist es nicht unvorstellbar, dass die Katastrophe von Oppau durch heimliche Experimente dieser Chemiker ausgelöst wurde.“ Fritz Haber hatte gegenüber einem Reporter der Zeitung behauptet, weder Nitrate noch der verwendete Hochdruck hätten eine Explosion dieses Ausmaßes verursachen können.

Die „New York Times“ war nicht die einzige Pressestimme, die sich so äußerte. IG-Vorstandsmitglied Carl Duisberg: „Nun hat man die ganzen Forderungen nach Beschränkung unserer Industrie auch in Zusammenhang gebracht mit dem Unglück in Oppau. Die „Times“ und die „Daily Mail“ haben behauptet, es sei eine merkwürdige Sache, dass plötzlich ein Produkt in die Luft flöge, was eigentlich nicht in die Luft fliegen könne.“

Der Friedenvertrag von Versailles sah eine Kontrolle der Kriegsbetriebe durch die Alliierten vor, also auch des Werks in Oppau. Kontrolleur Leutnant McConell, der das Oppauer Werk noch vor der Katastrophe besichtigte: „Als ich das Werksgelände betrat, zeigten sich die Deutschen höflich, aber starrsinnig. Sie schienen gewillt, eine oberflächliche Inspektion über sich ergehen zu lassen; aber sie widersetzten sich energisch einer eingehenden Überprüfung. Am dritten Tag meines Aufenthalts wurde ich darüber informiert, dass meine Anwesenheit unerwünscht sei und ein formeller Protest der Friedenskonferenz übermittelt würde, falls ich meine Überprüfung weiter ausdehnen sollte.“ Warum?

Spätestens seit 1925 sind illegale (den Versailler Vertrag verletzende) Aufrüstungsmaßnahmen des Deutschen Reichs belegt. Es dauerte allerdings noch sieben Jahre, bis die Rüstungsindustrie den Politiker fand, der ihr wieder zu besseren Absatzmöglichkeiten verhalf: Adolf Hitler. Aber das ist eine andere Geschichte.

Die Düngerthese

Der Untersuchungsausschuss des Reichstags dagegen weiß es in seinem Abschlussbericht im September 1922 ganz genau: „Bei dem Explosionsunglück in Oppau handelt es sich um einen jener Betriebsunfälle, deren Ursachen sich durch alle Anstrengungen der Untersuchung und Zuhilfenahme der Wissenschaft und Technik nicht zuverlässig ergründet werden kann.“ Aber wir dürfen es trotzdem versuchen.

Bei einer Sitzung des oben erwähnten Ausschusses am 5. 12. erklärten Vertreter des Aniliner Arbeiterrats aufgrund von Analysen des Restbestandes des Ammonsulfatsalpeters, wie die Katastrophe entstanden sein muss, wenn der Explosionsstoff wirklich Kunstdünger war. Eine ungenügende Mischung der beiden Ausgangsstoffe Ammonnitrat und Ammonsulfat habe den Mischdünger explosiv werden lassen.

Ammonnitrat (auch bekannt als Ammonsalpeter) zersetzt sich spontan ab 200° C exotherm, also in einem Prozess, der unter Wärmeentwicklung abläuft und keine Energiezufuhr von außen benötigt. Aus 1 kg werden dabei fast l000 l Gas frei. (Das Schwadenvolumen beträgt 980 l/kg) Dieser Stoff war im vergangenen Krieg als Sprengstoff eingesetzt worden. Das es aber zur Katastrophe kommen konnte, sei kein Zufall, die Werksleitung habe das Produktionsverfahren geändert, um eine unverantwortliche Produktivitätssteigerung durchzusetzen. Der Arbeiterrat: „Man hat früher das Ammonnitrat und das Sulfat im Sättiger vermischt, die erkaltete Masse auf ein Gangband gebracht und in den Lagerraum, den Silo, überführt. Dieses Verfahren war für den Betrieb zu langweilig, hat man doch auch Leute benötigt, das Gangband zu überwachen. Fortschritt und Technik erklügelten ein Spritzverfahren: die vermischten Stoffe werden in den Leitungen bei 65° C zum Silo geleitet und mit Pressluft zerstäubt, so dass die Produktion sich wie Schnee niederschlug. Beim Niederschlag haben sich die Stoffe teilweise wieder entmischt.“

Heimathistoriker Braun formuliert das alles etwas anders, sagt aber dasselbe: „Bei der längeren Lagerung bildet sich schließlich in den Salzsilos unter dem Druck des eigenen Gewichtes eine steinharte Masse. Man kann sie durch Handarbeit mit Pickeln auflockern, doch geht diese Arbeit bei den großen Salzmassen zu langsam von statten, um dem Versand in seiner lebhaftesten Verkaufszeit nachkommen zu können. Dann nehmen geprüfte Sprengtechniker und Schießmeister eine Sprengung (.) vor.“ Produktivitätssteigerung.

Der Arbeiterrat berichtete vor dem Untersuchungsausschuss weiterhin, die Sprengtechniker und Lagerarbeiter seien im Leistungslohn („Stücklohn“) bezahlt worden und dadurch zur Vernachlässigung der Sicherheitsvorschriften verleitet worden.

Folgerichtig verlangten sie das Verbot von Prämien- und Akkordarbeit in chemischen Betrieben. Der Untersuchungsschuss hört es sich an, überlegt und kommt zu dem eingangs zitierten Ergebnis. August Brey (SPD), Mituntersucher im Parlamentsausschuss und Gewerkschaftsvorsitzender der Chemiearbeiter, hat es schon im Oktober gewusst: „Die Ursachen des Unglücks sind noch nicht aufgeklärt. Ob dies jemals geschehen wird, ist ungewiss.“

Zurück zu der Trauerrede Boschs nach Ludwigshafen/Hauptfriedhof, was sagt er da gerade? „Wenn wir heute auch vor Trümmern stehen, so müssen wir doch wieder unverdrossen und nicht mutlos an unsere Arbeit gehen, eine Arbeit, die nur nach außen ruhmvoll und glänzend, in Wirklichkeit dornenvoll ist und bleiben wird“. Ach, stundenlang könnte ich ihm zuhören, Zitat auf Zitat häufen, es ist alles so schön, was er sagt! „Den Toten aber, die nicht mehr unter uns weilen, die hinabgestiegen sind in das dunkle Reich der Schatten, habe ich in dankbarer Erinnerung an ihre treue Mitarbeit und Pflichterfüllung tiefbewegten Herzens einen Kranz am Grabe niedergelegt.“ Manche Industrielle werfen den Leichen noch Kränze ins Grab, über die sie gerade gegangen sind.