Antiautoritärer Sozialismus in Magdeburg

Anarchisten, Syndikalisten und Sozialrevolutionäre in der Börde (1878-1945). Teil 1: Die Anfänge (1878-87)

Vorbemerkung

Antiautoritärer Sozialismus? Waren das nicht die 68er im Westen? Und was hat das mit Magdeburg zu tun? So oder ähnlich werden sich wohl die Leserinnen und Leser der Überschrift zu diesem Beitrag gefragt haben. Doch waren es nicht die 68er, die sich in der Geschichte des Sozialismus erstmals als „Antiautoritäre“ verorteten. Deren Wurzeln finden sich bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die ersten Ausläufer des Anarchismus aus den Exilorten deutscher Sozialisten nach Deutschland herüber schwappten. Vor allem in den Zeiten des Sozialistengesetzes (1878-1890) kam es in der deutschen Arbeiterbewegung zu einer deutlichen Radikalisierung – die sich sowohl gegen die Repression seitens des Staates als auch gegen die autoritären Tendenzen innerhalb der Sozialdemokratie richtete. In der Folge verließen immer wieder oppositionelle Sozialisten die sozialdemokratische Partei und bildeten eigene Organisationen. Das waren zunächst die Anarchisten in den frühen 1880er Jahren, Anfang der 1890er Jahre die Bewegung der „Jungen“, die sich von der Partei lösten und sich als „Unabhängige Sozialisten“ formierten und um die Jahrhundertwende die lokalistische Strömung in den Gewerkschaften, die sich in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg immer mehr zum französischen Syndikalismus [1] hin orientierte.

Alle diese Tendenzen in der Arbeiterbewegung wurden in der partei-offiziellen Geschichtsschreibung der DDR weitestgehend ignoriert bzw. nur in sehr verzerrter Form behandelt, ihre Protagonisten als „kleinbürgerliche Elemente“ de facto aus der Arbeiterbewegung exkommuniziert. Daher ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass es in den Jahren vor 1989 keine regionalgeschichtlichen Studien zu diesen Bewegungen gegeben hat. In Magdeburg ist die Situation gar so, dass es zwar einige Forschungsarbeiten und Materialsammlungen zur Geschichte der regionalen Arbeiterbewegung gibt, eine allgemeine „Geschichte der Arbeiterbewegung“ Magdeburgs von den Anfängen bis in die Gegenwart bis heute aussteht. Nach 1989 wurden einige Lücken geschlossen. So erschien 1995 eine Studie zur Geschichte der „Magdeburger Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg“ [2], sowie eine zum „Widerstandsverhalten der SPD im Parteibezirk Magdeburg-Anhalt gegen den Nationalsozialismus 1930-45“ [3], in der auch einige regionale linkssozialistische Gruppierungen im Widerstand gegen den Faschismus behandelt werden. Zu den Organisationen links der beiden großen Parteien der Arbeiterbewegung, SPD und KPD (letztere harrt ja auch noch einer kritischen Überarbeitung bzw. Neuschreibung), gibt es bis dato keine umfassende Regional-Studien – ganz zu schweigen von den Kämpfen unorganisierter Arbeiterinnen und Arbeiter. Mit Ausnahme der Dissertation „Die Räte in der Revolution von 1918/19 in Magdeburg“ von Martin Gohlke [4] und eines Artikels von Willy Mader zu den Magdeburger „Jungen“ [5], wurden solche Strömungen abseits der großen Parteien meist in wenigen Sätzen in anderen Arbeiten nebenbei abgehandelt.

Dabei gibt es in Magdeburg noch einige Schätze zu heben. Die Stadt war z.B. einer der ersten Orte des Deutschen Reiches, wo es in den 1880er Jahren zur Bildung von anarchistischen Gruppen kam. In der Bewegung der so genannten „Jungen“ in der Sozialdemokratie 1890-92 war Magdeburg neben Berlin und Dresden eines der drei Organisationszentren in Deutschland. Später war die Stadt z.B. Ort der Abhaltung von Reichskongressen der Lokalisten (1912), der Syndikalistisch-Anarchistischen Jugend (1923) und Anarcho-Kommunisten (1927), es gab hier in den 1920ern einen anarchistischen Verlag und auch im Widerstand gegen den Faschismus 1933ff waren Magdeburger Syndikalisten aktiv. Grund genug also, sich der Thematik anzunehmen – auch wenn heute die Geschichtsschreibung der Arbeiterbewegung eher als exotisches Thema gilt.

Die Situation im Deutschen Reich ...

Die Anfänge der anarchistischen Bewegung fallen in Deutschland mit der Geltungszeit des so genannten „Sozialistengesetzes“ (1878-90) zusammen. Dem großen Gründerboom nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 war bereits durch den Gründerkrach von 1873/74 ein abruptes Ende bereitet worden. Damit war die erste Phase der Industrialisierung – die um 1840 begonnen hatte – in Deutschland faktisch abgeschlossen. In dieser relativ kurzen Zeitspanne war es zu einer bis dato ungekannten Umwälzung der Lebens- und Arbeitsverhältnisse gekommen. Ganze Bevölkerungsschichten wurden entwurzelt und tausende verarmte bzw. enteignete Bauern und Handwerkergesellen sahen sich gezwungen, sich entweder in den zahlreich entstandenen neuen Fabriken zu verdingen oder auszuwandern. Die Wirtschaftskonjunktur kam lange Zeit nicht wieder richtig in Fahrt. Erst im Verlaufe der 1880er Jahren kam es wieder zu einem langsamen, aber stetigen Aufschwung.

Politisch war das neu geschaffene Deutsche Reich unter dem preußisch-deutschen Kaiser der Form nach eine konstitutionelle Monarchie, faktisch jedoch ein Obrigkeitsstaat von Kaisers Gnaden. Der in Berlin tagende Reichstag war ein weitgehend machtloses Parlament. Der Kaiser hatte in nahezu allen wichtigen Entscheidungen das letzte Wort, er ernannte den Reichskanzler und die Minister, er hatte die Entscheidungshoheit über Krieg und Frieden und konnte jederzeit das Parlament auflösen. Alle drei Jahre fanden Reichstagswahlen statt, die im Gegensatz zu den Wahlen auf Länder- und kommunaler Ebene, auf dem freien, gleichen und allgemeinen Stimmrecht beruhten - allerdings nur für Männer ab 25 Jahren. Bei Länder- und Kommunalwahlen wurde nach dem so genannten Dreiklassenwahlrecht gewählt, d.h. die Wahlbevölkerung wurde nach der jeweiligen Steuerklasse in drei unterschiedliche Wahlklassen eingeteilt, deren Stimmen unterschiedlich gewichtet wurden. Es galt generell das Mehrheitswahlrecht, der Kandidat, der die absolute Mehrheit der Stimmen für sich verbuchen konnte, bekam den Parlamentssitz des Wahlkreises.

Die Sozialdemokratie jener Zeit, die 1875 aus der Vereinigung zweier Arbeiter-Vereinigungen hervorgegangene Sozialistische Arbeiter Partei Deutschlands, beteiligte sich zwar an den Reichstagswahlen und konnte auch langsame, aber stetige Stimmenzuwächse verzeichnen. Eine generell ablehnende Haltung der anderen Parteien im Reichstag ließ jedoch keine großen Hoffnungen für eine erfolgreiche parlamentarische Arbeit aufkommen.

Eine weitere Säule der Arbeiterbewegung waren die Gewerksgenossenschaften (Gewerkschaften), die nach der 1869 in Preußen erfolgten Aufhebung des Koalitionsverbotes wie Pilze aus dem Boden schossen. Mit dem Gründerboom kam es in Deutschland zu einer Welle von Streiks – ein regelrechtes „Streikfieber“ war ausgebrochen. Dabei nahmen nicht nur die Anzahl der Streikenden und die Häufigkeit von Arbeitsniederlegungen zu, es wurden auch zunehmend mehr Wirtschaftszweige von den Streikbewegungen erfasst. Die erste große Wirtschaftskrise des Kapitalismus 1873/74 – und die in deren Gefolge entstandene Massenarbeitslosigkeit – setzte dieser Entwicklung erst einmal ein Ende. Die staatlichen Behörden nutzten diese Atempause, um 1874 die Gesetzgebung gegen Arbeitsniederlegungen zu verschärfen, indem sie schon die Aufforderung zum Streik unter Strafe stellten.

Auf internationaler Ebene war 1864 unter Federführung von Karl Marx die Internationale Arbeiter Assoziation (IAA) gegründet worden. Die IAA gilt als der erste Versuch, die Arbeiter(vereine) aller Länder organisatorisch zu vereinigen, mit dem Ziel der „vollständige(n) Emanzipation der Arbeiterklasse“. In den Statuten wurde entsprechend der damaligen Praxis der meisten Gründungssektionen der Schwerpunkt auf die „ökonomische Emanzipation“ gelegt, dem „jede politische Bewegung, als Mittel, unterzuordnen“ war. [6]

In den folgenden Jahren kristallisierten sich zwei Richtungen heraus: eine etatistische (staatsbefürwortende) und eine antiautoritäre. Erstere plädierte für eine zentralistische und ideologisch einheitlichere Ausrichtung der Internationale unter der Führung von Marx und sah im politischen Kampf in den Parlamenten und der Machtübernahme im Staat ihren Schwerpunkt. [7] Sie hatte ihre Hauptstütze in der deutschen Sektion. Die zweite Richtung stand weitgehend auf dem Standpunkt des russischen Revolutionärs und Anarchisten Michael Bakunin, sah im ökonomischen Kampf der Gewerkschaften den Schwerpunkt im Befreiungskampf des Proletariats und wollte den Staat als Herrschaftsinstrument unmittelbar mit der Revolution abschaffen. Sie plädierte für einen föderalistischen Aufbau der IAA, dem Generalrat sollten nur koordinierende und unterstützende Funktionen zukommen. Diese Auffassungen wurden vor allem von den südeuropäischen und romanischen Sektionen vertreten. Auf dem Kongress in Den Haag 1872 eskalierten die Meinungsverschiedenheiten und führten zur Spaltung der Internationale. Mitte der 1870er Jahre gab es noch einige Versuche, beide Flügel wieder zu vereinigen, die jedoch allesamt scheiterten, was schließlich zur schleichenden Auflösung der IAA führte.

In Deutschland hatte bis Ende der 1870er Jahre der Anarchismus kaum Fuß gefasst. Erste Regungen des deutschsprachigen Anarchismus, wenn man von der Abfassung von einigen theoretisch-philosophischen Schriften – etwa Max Stirners [8] – absieht, artikulierten Exilanten in der Schweiz und Frankreich. Vor dem Sozialistengesetz gab es in Deutschland nur in einigen Städten Anhänger des Anarchismus, so u.a. in Leipzig, München, Berlin und Magdeburg. [9]

Die in den 1870er Jahren zunehmenden Arbeitskämpfe, der wachsende Einfluss der vereinigten Sozialdemokratie und die anhaltende wirtschaftliche Krise nach dem Gründerkrach 1873/74 führten auf Seiten der Herrschenden zu einer Art „Psychose“, die sie veranlasste, dem befürchteten weiteren Erstarken der Arbeiterbewegung einen gesetzlichen Riegel vorzuschieben. Zwei Attentate auf den Kaiser im Frühsommer 1878 [10] lieferten den Anlass zum Erlass des „Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ („Sozialistengesetz“) und schufen gleichzeitig eine dafür günstige öffentliche Stimmung. Am 21. Oktober 1878 wurde das Gesetz vom Reichstag verabschiedet. Damit wurden alle auf den „Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung“ abzielenden „sozialdemokratischen, sozialistischen oder kommunistischen Bestrebungen“ verboten. Davon waren Vereine, Versammlungen und Druckerzeugnisse betroffen, auch konnte über ganze Städte der so genannte „kleine Belagerungszustand“ verhängt und auf dieser Basis alle missliebigen Personen von dort ausgewiesen werden. Die Parlamentsfraktion der Partei jedoch blieb unangetastet, auch durften sich weiterhin deren Vertreter zu den Wahlen aufstellen lassen und für die Wahlwerbung lokale Wahlvereine bilden.

Die Schuld für die Attentate war der sozialdemokratischen Partei zugeschoben worden. Zwar versuchte die Partei durch Denunziation der Attentäter als „Idioten“ oder „Wahnsinnige“ sich von diesen zu distanzieren, jedoch ohne Erfolg. Unmittelbar nach den Attentaten kam es zu einer Hetzkampagne gegen alle der Zugehörigkeit zur Sozialdemokratie Verdächtigten. Hunderte wurden verhaftet und teilweise zu mehrjährigen Zuchthausstrafen wegen Majestätsbeleidigung o.ä. verurteilt.

Die Verhängung des Sozialistengesetzes stürzte die sozialdemokratische Partei zunächst in eine Phase tiefer Depression. Die meisten Parteigliederungen lösten sich auf. Die Genossen an der Basis glaubten zunächst, die ausbleibenden Gegenmaßnahmen der Parteiführung dienten lediglich zur Verschleierung der Formierung im Untergrund. Davon konnte jedoch kaum die Rede sein, die Parteileitung hatte de facto kapituliert. Die ersten Aktivitäten zur Reorganisation der Partei in der Illegalität gingen dann auch von der Basis aus – und von einer Gruppe Londoner Exilanten um den ehemaligen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Johann Most. In Zusammenarbeit mit anderen Exilierten gründete er Anfang 1879 die Wochen-Zeitung „Freiheit“, in der nicht nur die Ziele der Sozialdemokratie propagiert wurden, sondern auch die Parteileitung wegen ihrer zögerlichen Haltung kritisiert wurde. Letztere distanzierte sich bereits im Sommer 1879 von der immer radikaler auftretenden „Freiheit“ und gründete in Zürich ein direkt unter ihrer Kontrolle stehendes Organ, den „Sozialdemokrat“. Auf dem Parteitag der Sozialdemokratie 1880 im schweizerischen Schloss Wyden wurden Most und sein Genosse Wilhelm Hasselmann wegen „Spaltungsversuchen“ aus der Partei ausgeschlossen, woraufhin sich beide in Richtung Anarchismus orientierten. Aber auch innerhalb der anarchistischen Bewegung gab es Auseinandersetzungen ideologischer und persönlicher Art, in deren Folge 1881 – ebenfalls in London – die Zeitung „Der Rebell“ entstand. [11]

Die Zeitungen wurden auf teils abenteuerlichen Wegen nach Deutschland geschmuggelt, die „Freiheit“ sollte zum wichtigsten Organ der sich gerade formierenden illegalen anarchistischen Bewegung in Deutschland werden. Innerhalb der Leserschaft bildeten sich Anfang der 1880er Jahre anarchistische Gruppen, die untereinander Kontakt hielten. Die Verfolgungsbehörden setzten alles daran, die illegale Bewegung zu unterdrücken und ihre Ausbreitung zu verhindern. In den Berichten der politischen Polizei wurde anfangs kein Unterschied zwischen den einzelnen Strömungen innerhalb der Arbeiterbewegungen gemacht. Sie fasste diese unter dem Oberbegriff „Sozialdemokraten“ zusammen, erst etwa Anfang 1884 begann die Polizei zwischen Sozialdemokraten und Anarchisten zu unterscheiden. (Das ist aber insofern nicht weiter verwunderlich, da sich die Anarchisten selbst noch lange als Sozialdemokraten bzw. Sozialrevolutionäre betrachteten und von weiten Kreisen in der Partei auch als Genossen betrachtet wurden.) Die Anarchisten beschränkten sich nicht nur auf Verbalradikalismus. In einem Klima ständiger Repression und in Erwartung baldiger revolutionärer Veränderungen suchte man das Volk durch Attentate aufzurütteln. In den 1880er Jahren gab es einige Anschläge auf das Leben von exponierten Vertretern des Kaiserreiches bzw. des Repressionsapparates, die von Anarchisten durchgeführt worden waren, aber zumeist scheiterten. Am bekanntesten wurde in Deutschland der Anschlag auf den Kaiser Wilhelm I. anlässlich der Einweihung des Niederwalddenkmals bei Wiesbaden im September 1883. Eine Gruppe von Anarchisten um August Reinsdorf hatte ein Attentat auf die versammelte Vertreterschaft der deutschen Fürstenhäuser geplant, scheiterte jedoch infolge des Versagens des Zünders; ein Sprengstoffanschlag auf das Polizeigebäude in Frankfurt/Main im Oktober 1883 verursachte nur relativ geringen Sachschaden und 1885 gelang es einem Unbekannten, den verhassten Frankfurter Polizeirat Rumpff zu erstechen, eine Tat, die auch in sozialdemokratischen Kreisen kaum verhohlene Genugtuung auslöste. Damit war aber die kurze Ära anarchistischer Attentate in Deutschland faktisch schon wieder beendet, spätestens um die Jahrhundertwende gab es unter den hiesigen Anarchisten keine Befürworter von individuellen Gewalttaten mehr. [12]

Die Anarchisten waren nicht die einzige Strömung inner- und außerhalb der Partei, die in Opposition zur Parteileitung bzw. Reichstagsfraktion stand. 1885 kam es in einigen der illegalen lokalen Parteiorganisationen zum offenen Bruch – so auch in Magdeburg –, als eine Mehrheit der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion für die Subventionierung von Schifffahrtsaktiengesellschaften zur Förderung der kolonialen Verkehrsverbindungen plädierte. Fortan existierten zwei Strömungen in der Partei, die damals auch die „blaue“ (gemäßigte) und „rothe“ (radikale) Richtung genannt wurden. Die Grenzen der letzteren zum Anarchismus waren oft fließend, man stand vielerorts in engem Kontakt miteinander, auch wenn die „Rothen“ einige Vorbehalte gegenüber bestimmten anarchistischen Standpunkten hegten.

Die Reichstagsfraktion als einziges legales Gremium konnte jedoch einen starken Einfluss innerhalb der Partei erlangen, wodurch sich die Schwerpunktsetzung der Partei immer mehr auf die Gesetzgebung im Parlament verlagerte. Sie war zudem stets bemüht, eine gemäßigte Politik zu betreiben, um keinen weiteren Verfolgungen Vorschub zu leisten und distanzierte sich fortwährend von den Anarchisten. Sie war dabei nicht zimperlich in der Wahl der Mittel, missliebige Genossen wurden nicht selten als Polizeispitzel denunziert.

Trotz Repression und internen Meinungsverschiedenheiten erstarkte die Arbeiterbewegung wieder zusehends. Zum einen stieg die Wählerschaft der Sozialdemokratie auf ein Mehrfaches, zum anderen kam es 1889 zu einer neuerlichen Streikwelle, die im Streik von fast 100.000 Ruhrbergarbeitern – dem größten des 19. Jahrhunderts in Deutschland – kulminierte. Nach einer 1886 einsetzenden Periode verschärfter staatlicher Repression, die zu einer Vielzahl von so genannten Geheimbundprozessen in ganz Deutschland führte, wurde schließlich das Gesetz im Januar 1890 vom Reichstag nicht mehr verlängert und lief im September desselben Jahres formal aus.

... und in Magdeburg

Die Entwicklungen im Reich lassen sich auch in Magdeburg gut nachvollziehen. Die Festungsstadt war zur Zeit der Reichsgründung eine preußische Provinzhauptstadt von ca. 85.000 Einwohnern, die nahezu alle innerhalb des Festungsgürtels in der Altstadt wohnten. Die Vororte und heutigen Stadtteile waren noch selbständige Kleinstädte, die größten wurden in den Jahren bis zur Jahrhundertwende eingemeindet (1867 Sudenburg, 1886 Neustadt, 1887 Buckau). Schon 1890 überschritt die Einwohnerzahl die 200.000er Marke – was aber nur zum Teil auf die Eingemeindungen, sondern vor allem auf die expandierende Industrie zurückzuführen war. Vor allem in den genannten Vororten Magdeburgs war aufgrund der landwirtschaftlichen Prägung des Umlandes zunächst eine lebensmittelverarbeitende Industrie (Zucker- und Zichorienfabriken, Brennereien, Getreidemühlen usw.) sowie eine anfangs vornehmlich für die Landwirtschaft produzierende Maschinenindustrie entstanden. Während des Gründerbooms und in den 1880er Jahren expandierte der Maschinenbau, es entstanden einige Großbetriebe mit mehr als 1000 Beschäftigten (H. Gruson, Schäffer & Budenberg, R. Wolf, Maschinenfabrik Buckau). Magdeburg war zudem ein Verkehrs- und Handelsknotenpunkt sowie eine durch Verwaltung und Militär geprägte Stadt. 1882 arbeiteten von 140.000 Einwohnern knapp 30.000 in Industrie und im Handwerk, 16.000 im Heeres- und Verwaltungsdienst bzw. freien Berufen, weitere 13.000 im Handel und im Verkehrswesen. [13]

Der hohe Bevölkerungszuwachs hatte eine „drückende Wohnungsnoth“ zur Folge. Insbesondere die Situation in der Altstadt, die sich aufgrund der Festungsanlagen nicht räumlich ausdehnen konnte, war erschreckend. Noch um 1900 hatte mehr als die Hälfte der Maurer und Zimmerer kein Bett für sich allein, 32.000 Einwohner lebten in überbelegten Wohnungen, d.h. nach damaliger Statistik mit mehr als 4 Personen in einem Wohnraum bzw. mit mehr als 11 Personen in 2 Wohnräumen, die oft nicht mal beheizbar waren. [14] Die Arbeiter in den Großbetrieben arbeiteten um 1870 zumeist 10 Stunden am Tag, 6 Tage die Woche, in den kleineren Betrieben und im Handwerk gab es oft Arbeitszeiten von bis zu 12 Stunden. Die Verdienste lagen – abgesehen von den Stammarbeitern der Metallbetriebe – in der Regel noch unter dem Existenzminimum, so dass die Kinder zum Familieneinkommen beitragen mussten. Auch hatten kleine Handwerker wie Schuhmacher oder Schneider nicht selten geringere Einkommen als die besser bezahlten Arbeiterschichten. „Die Mauer zwischen Reich und Arm, zwischen ‚Hoch’ und ‚Niedrig’ wurde kaum jemals derart aufgestockt, wie in den Zeiten des wirtschaftlichen Aufstiegs des Stadtbürgertums vor und nach 1871“, brachte der Stadthistoriker Helmut Asmus in seiner „Geschichte Magdeburgs“ die damalige Situation auf einen Nenner. [15]

In den 1860er Jahren wurden in Magdeburg einige Arbeitervereine und Gewerkschaften (Holz-, Metall-, Hand- und Fabrikarbeiter, Zimmerer und Maurer) gegründet, so z.B. 1866 eine Sektion der IAA, 1869 eine Ortsgruppe der Sozialdemokratischen Arbeiter-Partei, die unter Mitwirkung des Magdeburger Böttchermeisters Julius Bremer und des Zigarrenmachers Wilhelm Klees aus Buckau kurz zuvor in Eisenach gegründet worden war. 1876 wurde dann der „Sozialistische Wahlverein“, eine Filiale der vereinigten SAPD, aus der Taufe gehoben, der noch im selben Jahr mit der „Magdeburger Freien Presse“ eine eigene Tageszeitung herauszugeben begann. Zwar bewegten sich die Mitgliedszahlen der sozialdemokratischen Vereine alle im unteren dreistelligen Bereich, jedoch entfalteten diese rege Aktivitäten. Zwischen 1875 und 1878 registrierte die Polizei in Magdeburg und Buckau insgesamt 171 (genehmigte) Versammlungen mit bis zu 1500 Teilnehmern. Der zunehmende Einfluss der Sozialdemokratie zeigte sich außerdem bei den Reichstagswahlen 1877, als der sozialdemokratische Kandidat für Magdeburg, der Kaufmann Wilhelm Bracke, 26,5% der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte.

Das Sozialistengesetz

Nach den beiden Attentaten auf den deutschen Kaiser im Mai und Juni 1878 verschärfte sich die Verfolgung der Arbeitervereine. Auch die allgemeine Stimmung in der Öffentlichkeit war, glaubt man den Berichten des Regierungspräsidiums Magdeburg an den Kaiser, voll „tiefste(r) Entrüstung gegen die ruchlosen Verbrecher“. Es herrschte eine „sehr feindliche Stimmung“ gegenüber der Sozialdemokratie, der die Schuld für das Attentat zugeschrieben worden war. [16] Die Unternehmer der Stadt erließen im Juli 1878 einen Aufruf „An unsere Gehülfen und Arbeiter!“, in dem sie die Arbeiter vor den „verwerflichen Zielen der Socialdemokratie“ warnten und allen denjenigen mit Entlassung drohten, die als „Förderer des socialistischen Treibens innerhalb oder außerhalb der Werkstätten thätig sind“. [17] Nimmt man jedoch die Wahlergebnisse bei den Reichstagswahlen vom 30. Juli 1878 als Messlatte für die Stimmung in der Bevölkerung, so sieht das Ergebnis etwas anders aus. Der Kandidat der Sozialdemokratie, Bracke, konnte die für ihn abgegebenen Stimmen – entgegen dem reichsweiten Trend – um 6% auf 32,5% steigern.

Dennoch wirkte sich die Stimmung nach den Attentaten und die Angst vor einer zunehmenden Verfolgung auf das Verhalten der Magdeburger Sozialdemokratie aus. In der Folgezeit verhielt sich die Partei „äußerst still“, wie ein Bericht des Regierungspräsidiums vom Oktober 1878 notierte[18]. Bereits vor Inkrafttreten des Sozialistengesetzes wurde das Erscheinen der „Magdeburger Freien Presse“ eingestellt und der Sozialistische Wahlverein aufgelöst. Abgesehen von den Reichstagswahlen im Dezember 1879 und 1881, bei denen der Anteil der sozialdemokratischen Stimmen stagnierte bzw. leicht zurückging, trat die Magdeburger Sozialdemokratie laut Polizei nicht mehr an die Öffentlichkeit.

Obwohl es noch im April 1883 in einem Report der Überwachungsbehörden nach Berlin heißt, dass es von der Sozialdemokratie „kein Lebenszeichen“ gebe, hatte sich in der Zwischenzeit doch einiges getan. Eine so genannte „Corpora“-Organisation der illegalen Magdeburger Sozialdemokratie hielt regelmäßig geheime nächtliche Versammlungen der Vertrauensleute unter freiem Himmel ab. An der Spitze der „Corpora“ stand ein Agitationskomitee (im Allgemeinen kurz als das „Comité“ bezeichnet), das von Bremer, Klees und dem Schneidermeister Habermann geleitet wurde. 1882 sind zudem auch in Magdeburg und den umliegenden Dörfern mehrere gewerkschaftliche Fachvereine gegründet worden, in denen zumeist Sozialdemokraten die leitenden Funktionen übernahmen.

Inzwischen hatten sich auch die ersten, aufgrund der Verhängung des Belagerungszustandes Ausgewiesenen in Magdeburg niedergelassen. Sie kamen fast alle aus dem nahen Berlin und waren aktive und/oder führende Genossen der illegalen Parteiorganisationen. Diese Funktionäre trugen maßgeblich dazu bei, dass an ihren Fluchtorten, so auch in Magdeburg, die Reorganisation der Partei und die Verbreitung sozialistischer Ideen unter der Bevölkerung vorangetrieben wurde. So wurde nun auch in den Berichten des Regierungspräsidiums andauerndes „wühlerisches Treiben im Geheimen“ (Oktober 1883) [19] bzw. „fortgesetzte Wühlereien, zum Teil unter dem Deckmantel von Fachvereinen oder so genannten Volksbildungsvereinen“ (April 1884) [20] festgestellt. Im Juli 1885 heißt es gar, dass die Sozialdemokratie in Magdeburg „dreister als je zuvor“ agiere und zahlreiche Versammlungen verboten werden mussten. [21]

Die Spaltung der Magdeburger Parteiorganisation

Die Wiederbelebung der Aktivitäten der Magdeburger Parteiorganisation war in nicht unwesentlichem Maße den hier ansässigen Ausgewiesenen zu verdanken. Am 4. April 1883 hatte der Tischler August Reuter mehrere Versammlungen der am Ort befindlichen Ausgewiesenen einberufen, welche die „Unthätigkeit der politischen Comités von Magdeburg“ zum Thema hatten. Dem Comité wurde außerdem teils unfähiges, teils intrigantes Verhalten vorgeworfen. Es wurde aufgefordert, zu den diversen Vorwürfen Stellung zu nehmen und endlich tätig zu werden. In einer weiteren von den Ausgewiesenen einberufenen Versammlung wurde den anwesenden Comité-Mitgliedern, die zuvor Besserung gelobt hatten, noch einmal mit knapper Mehrheit das Vertrauen ausgesprochen. [22]

Damit war der Konflikt allerdings nicht gelöst. Insbesondere die Wahlprogramme der sozialdemokratischen Kandidaten zu den Reichstagswahlen im November 1884 standen im Mittelpunkt der Kritik. Die seien so formuliert gewesen, dass „sie jeder Mützenmacher unterschreiben konnte“, wie es ein Zeitgenosse ausdrückte. [23] Die Auseinandersetzungen führten Anfang 1885 schließlich zur Spaltung der Magdeburger Parteiorganisation (wie auch der für den Wahlkreis Wanzleben) in die so genannten Organisationen I und II.

Die gemäßigte „Organisation I“ wurde von Habermann, Bremer und dem Zimmermann Müller aus der Neustadt angeführt. Sie befand sich gegenüber der radikalen „Organisation II“ zunächst in der Mehrheit. Ihre Strategie war es, durch streng gesetzliches Vorgehen die Verhängung des Belagerungszustandes über Magdeburg zu verhindern. Die Radikalen hingegen suchten durch kompromisslosen Kampf das „Schandgesetz“ zu Fall zu bringen. An ihrer Spitze standen fast ausschließlich in Magdeburg wohnende Ausgewiesene, wie der Schlosser Hermann Malchert, der Zimmermann Adolf Schultze, der Maschinenbauer Max Sendig, der Zigarrenfabrikant Otto Eitner, der Schuhmacher Friedrich Gläser und der Zimmerer Adolf Schultze.

Die Auseinandersetzungen zwischen den beiden Richtungen wurden z.T. sehr verbissen geführt, die „nationale Partei“ ließ z.B. die „entschiedenen Revolutionäre“ durch „gewählte Ordnungsmänner aus dem Saale entfernen“ [24] und denunzierte den im Mai 1886 ausgebrochenen Maurer- und Zimmererstreik als allein von den Radikalen mit Schultze an der Spitze als „vom Zaune gebrochen“, ohne dass diese sich mit den anderen Vereinigungen in Verbindung gesetzt hätten. Mitte 1886 hatten sich die Kräfteverhältnisse dennoch soweit geändert, dass die Zahl der „Radikalen“ gleichauf mit der der „Gemäßigten“ war.[25] Von Seiten der Führer der Gemäßigten wurden nun Anstrengungen unternommen, die Organisation II wegen angeblicher „Sympathie mit dem Anarchismus“, die schon allein durch ihren Verkehr mit dem in Magdeburg sich aufhaltenden Sozialrevolutionär und Redakteur Carl Schneidt belegt sei, aus der sozialdemokratischen Partei allesamt auszustoßen. [26] Bei der Parteileitung in Zürich wurde deshalb beantragt, die weitere Belieferung der „Radikalen“ mit dem offiziellen Parteiorgan „Sozialdemokrat“ und weiterer Schriften aus Zürich sowie vom parteinahen Dietz-Verlag einzustellen. Jedoch intervenierten diese nun ihrerseits bei der Parteileitung. Im August 1886 erschien im „Sozialdemokrat“ eine Erklärung, in der man sich entschieden gegen die Vorwürfe der Führer der Organisation I verwahrte.[27] Da zudem auch die Radikalen regelmäßig ihre Beiträge und Solidaritätsgelder nach Zürich abführten, wurde der Ausschluss aus der Partei aufgehoben und die Belieferung mit Schriften wieder aufgenommen.

Von Seiten der Parteileitung bzw. der Reichstagsfraktion wurden nun wiederholt Versuche unternommen, eine Aussöhnung zwischen beiden Flügeln herbeizuführen. Eine Befürchtung der Parteileitung war, dass es infolge der Spaltung zur Aufstellung zweier Kandidaten für die Reichstagswahlen kommen könnte. Es wurde schließlich – ähnlich wie in anderen Städten, wo es ebenfalls zu Spaltungen der Partei gekommen war – die Einrichtung eines Schiedsgerichtes beschlossen. Der Reichstagsabgeordnete der Magdeburger Sozialdemokratie, der Hutmacher August Heine, hatte dazu bei der Parteileitung in Zürich vorgefühlt und im Einvernehmen mit der Führung der Magdeburger Organisation I eine Regelung vorgeschlagen, in der der radikalen Fraktion weitgehende Zugeständnisse, so z.B. eine stärkere Dezentralisierung der Organisation, eingeräumt wurden – allerdings erfolglos. Zwar vermerkte die Polizei in einem Bericht vom Oktober 1886, dass es zwischen beiden Flügeln zu einer Annäherung gekommen sei, doch die bereits prognostizierte einheitliche Organisation für den Wahlkreis Magdeburg kam nicht zustande. Hauptgrund war die erneute Kandidatur Heines für die Reichstagswahlen im Februar 1887. Heine hatte sich nach Auffassung des überwiegenden Teils der Magdeburger Sozialdemokraten in der vergangenen Legislaturperiode im Reichstag nicht eben wacker geschlagen. Sein gutes Stichwahlergebnis von 1884 sei nur „den kleinen Handwerkern und einer Anzahl der Konservativen zu verdanken“ gewesen, deren Stimmentscheidung für die Sozialdemokratie mit weitgehend harmlosen Wahlforderungen erkauft worden sei. [28] Da die Kandidatur Heines mit Unterstützung der Fraktion und der lokalen Führer der Organisation I nach langen Auseinandersetzungen erneut durchgesetzt werden konnte, verhärteten sich die Fronten wieder. Die Wiedervereinigung der beiden Parteiorganisationen fand dann schließlich erst kurz vor dem Fall des Sozialistengesetzes, im Jahre 1888, statt – nachdem über Heine durch ein örtliches Schiedsgericht der Partei faktisch ein Auftrittsverbot in den hiesigen Versammlungen ausgesprochen worden war.

Die Anfänge des Anarchismus in Magdeburg

Neben der parteiinternen Opposition entstand in Magdeburg auch eine oppositionell-sozialrevolutionäre Strömung, die u.a. die Beteiligung an den Wahlen generell verwarf. Auch an deren Herausbildung waren maßgeblich die Ausgewiesenen beteiligt. Die ersten Aktivitäten zur Verbreitung sozialrevolutionärer Schriften gingen aber von ortsansässigen Genossen aus. Bereits im Sommer 1879, unmittelbar nach Gründung der Mostschen „Freiheit“, wurde Magdeburg von Düsseldorf aus mit mehreren Exemplaren der Zeitung beliefert.[29] Im Dezember 1879 fand eine illegale Versammlung bei Carl Winter in Sudenburg statt, auf der über die Verbreitung der „Freiheit“ beraten wurde. Mehrere Aktive erklärten sich bereit, für die Lieferung der illegalen Zeitung als Deckadresse zu dienen. Im Mai 1880 wurde aus London vermeldet, dass aus Magdeburg – neben Dresden, Essen und Königsberg – Gelder für die Unterstützung der „Freiheit“ eingegangen seien. [30] Immer wieder kam es zu Beschlagnahmungen von Paketen, die die „Freiheit“, den „Rebell“ und andere Druckschriften enthielten. [31] Im April 1881 wurden sechs Personen, die der Verbreitung der „Freiheit“ und des „Sozialdemokrat“ bezichtigt wurden, zu je einem Monat Gefängnis verurteilt, einen Monat später folgten zwei weitere.

Nur für kurze Zeit konnte damit die Herausbildung der hiesigen anarchistischen Strömung beeinträchtigt werden. Neue Impulse erhielt sie durch den Zuzug mehrerer Ausgewiesener. Insbesondere die Ankunft des 1881 aus Berlin ausgewiesenen Schuhmachers Gustav Krause, der sich im August 1883 in Buckau niederließ, sollte sich als entscheidend für die Organisierung der Radikalen in Magdeburg und ihre Orientierung zum Anarchismus erweisen. Von Beginn an beteiligte sich Krause aktiv an der illegalen Organisation der Magdeburger Sozialdemokraten. Schon bald geriet er jedoch in Konflikt mit der Parteiführung. Im Oktober 1883 versuchte Habermann mit dem Ausschluss von Krause aus der Parteiorganisation der Situation wieder Herr zu werden. Letztlich konnte er jedoch nichts Konkretes vorweisen, was einen Ausschluss rechtfertigt hätte. Das Ansinnen Habermanns wurde von den Magdeburger Parteibezirken zurückgewiesen.[32]

Ende 1883 begann Krause, die Verbreitung der anarchistischen Zeitung „Rebell“ in Magdeburg zu organisieren. Er korrespondierte dazu regelmäßig mit anarchistischen Emigranten in Belgien (John Neve) [33] und London (Gustav Knauerhase und dem inzwischen aus Magdeburg emigrierten Winter), über die Magdeburg mit den Zeitungen beliefert wurde. Anfang Dezember wurden mehrere Hundert Exemplare des Blattes „auf den Straßen und Bauplätzen hiesiger Stadt verbreitet“. [34] In der Folgezeit kam es immer wieder zu Verteilaktionen einer größeren Anzahl von Exemplaren des „Rebell“ und anderer anarchistischer Schriften in der Stadt und an den Kasernen Magdeburgs. Zwar konnte die Polizei um die Jahreswende 1883/84 nur 6 Abonnenten der „Freiheit“ und einen des „Rebell“ (gegenüber 60 des „Sozialdemokrat“) feststellen [35], jedoch muss die Anzahl der verbreiteten Exemplare um einiges höher gelegen haben. Das jedenfalls lassen die Zahlen der für Magdeburg bestimmten Exemplare von anarchistischen Schriften vermuten. [36]

Ceterum Censeo

Titelblatt der anarchistischen Flugschrift "Ceterum Censeo", wie sie in Magdeburg verteilt wurde

Unterstützung bekam Krause in Magdeburg von einigen anderen Aktiven, so z.B. den Berliner Ausgewiesenen, dem Tischler Ferdinand Henning und dem Eisendreher Robert Drichel sowie einigen weiteren Anhängern, besonders aus den umliegenden Orten im Süden Magdeburgs (Groß Ottersleben, Lemsdorf, Benneckenbeck ...). Aufgrund des streng konspirativen Vorgehens der Anarchisten zu jener Zeit konnten deren Organisationsstrukturen nie ganz aufgeklärt werden. Fest steht, dass es um den Jahreswechsel 1884/85 zu diversen Gruppenbildungen im Magdeburger Raum kam. Bis dahin existierten zwar lose Zusammenhänge von Anarchisten, die vor allem den Vertrieb der Zeitungen und Druckschriften organisierten, aber keine festen Gruppenstrukturen – nicht zuletzt, weil Krause selbst zunächst keine Notwendigkeit für solche gesehen hatte. Wichtig war für ihn – glaubt man den Darstellungen eines Polizei-Informanten – vor allem die Heranbildung von „Unteroffizieren der Revolution“, deren Aufgabe es sei, „die Mitglieder so zu instruieren, dass sie im Momente der Revolution wissen, was sie zu tun haben.“ [37]

Diese Strategie änderte sich jedoch bald, die Polizei vermeldete jedenfalls im Januar 1885, dass in Magdeburg ein „anarchistischer Verein“ mit mindestens sieben Mitgliedern – zumeist Ausgewiesenen – bestehe.[38] Die Taktik der Anarchisten um Krause war es, Gruppen mit max. fünf Mitgliedern zu bilden, die wiederum die Gründung weiterer Gruppe initiieren sollten. Die Gründung von mindestens einer solchen Gruppe zu Ostern 1885 ist aktenkundig geworden. [39] Außerdem wurde vermeldet, dass am 10. Mai 1885 unter führender Beteiligung von Krause, Drichel und  Henning eine anarchistische Gruppe gebildet worden sei. [40] Diese hatte personelle Überschneidungen mit dem bereits Anfang des Jahres vermeldeten „anarchistischen Verein“, auch die Existenz einer Anarchistengruppe namens „Mephistopheles“ ist zu jener Zeit in den Polizeiakten vermerkt. Vermutlich gab es einen hohen Fluktuationsgrad sowohl bei den Mitgliedern, als auch eine relativ kurze Lebensdauer der Gruppen. Für den August 1886 verzeichnen die Akten die Existenz einer anarchistischen Gruppe um Krause mit ca. 12 Genossen. Hinter denen stünden weitere „15-18 Mann, die zu engerem Anschluss herangezogen werden können“. Diese hätten „regelmäßige Versammlungen an ständig wechselnden Orten“ durchgeführt, auf denen Druckschriften verteilt und Gelder eingesammelt worden seien. In Magdeburg wurden durch die Gruppe ca. 30 Exemplare der „Freiheit“ regelmäßig vertrieben. Von der Polizei wurde schließlich eingeschätzt, dass „Einfluss und Ansehen Krauses bedenklich“ zugenommen habe und der Hoffnung auf Bildung fester Organisationsstrukturen Ausdruck verliehen, da man der Meinung war, gegen diese dann einfacher vorgehen zu können.[41]

Magdeburg war zu jener Zeit auch eine wichtige Schaltstelle der sich formierenden anarchistischen Bewegung Deutschlands. Systematisch wurden Kontakte zu Städten in der Umgebung geknüpft und ein Vertriebsnetz für die Zeitungen geschaffen. So wurden die Berliner anarchistischen Gruppen, deren Aktive zumeist ausgewiesen worden waren, von Magdeburg aus organisiert und mit Druckschriften beliefert. Dazu wurde auf Veranlassung der ausgewiesenen Schlosser Hermann Malchert und Max Sendig eigens der Dreher Otto Harprecht aus Buckau nach Berlin geschickt, der dort 1884 eine Zeitlang seinen Wohnsitz genommen hat, um den Kontakt nach Magdeburg zu halten und den Schriftenvertrieb zu organisieren. Infolgedessen hat „die Versendung der ‚Freiheit’ von Magdeburg nach hier bedeutend zugenommen“, stellte die Berliner Polizei im November 1884 mit, nachdem sie zwei Monate zuvor die Existenz von „anarchistische Verbindungen“ festgestellt hatte, die jedoch anscheinend „von Magdeburg abhängig“ seien. [42] Anfang 1885 wurde Harprecht von dem aus Berlin ausgewiesenen Klempner Carl Pötting – der sich in Magdeburg niedergelassen hatte – abgelöst. Dieser nutzte eine befristete Aufhebung seiner Ausweisung aufgrund der Entbindung seiner Frau, um die Reorganisation der Berliner Bewegung voranzutreiben, in dem er dort ein Vertriebsnetz aufbaute. [43]

Krause hielt – neben seinen Verbindungen ins Ausland und nach Berlin – auch mit zahlreichen weiteren Genossen im Reich Kontakt. Mit anarchistischen Gruppen und Einzelpersonen in der näheren Umgebung bestand ebenfalls reger brieflicher und auch persönlicher Verkehr. So fanden Pfingsten 1884, Ostern 1885 [44] und am 5.12.1885 [45] überregionale Treffen in Brandenburg statt, auf denen u.a. über die Forcierung der Druckschriftenverbreitung beraten wurde. Krause galt auch als Anlaufadresse für Reisende, immer wieder wohnten bei ihm zeitweilig Genossen – entweder auf Durchreise oder solange, bis sie anderswo ein Quartier gefunden hatten. Die Polizei vermutete schließlich die Existenz einer „Centralstelle für die anarchistischen Verbindungen“ unter der Leitung von Krause in Buckau. [46]

In den Jahren 1885/86 wurden auch einige Anstrengungen unternommen, den Druck einer Zeitung „im Mostschen Sinne“ in Deutschland selbst zu bewerkstelligen. Erstmals hatte Krause dieses Ansinnen auf dem Treffen Ostern 1885 in Brandenburg angesprochen, nachdem er kurz zuvor über eine Deckadresse in Amerika wegen Geld zur Einrichtung einer Druckerei angefragt hatte. Es wurden rund 2.000 Mark als Startkapital dafür veranschlagt, die jedoch nicht aufzutreiben waren. Daher wurde der Diebstahl von Geld und Gerätschaften für den Druck in Erwägung gezogen. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Schriftsetzer Carl Herrmann aus Berlin, der bei seinem Arbeitgeber einiges Material gestohlen und mit der Herstellung eines kleinen Druckapparates begonnen hatte. Es wurde eine Ladenkammer in Magdeburg angemietet, die jedoch bei dem Versuch, den nicht benötigten Teil der Beute aus dem Diebstahl zu verkaufen, aufgeflogen ist. Bei der anschließenden Durchsuchung wurde ein Großteil des Materials gefunden und beschlagnahmt. Jedoch nicht alles, ein Teil war im Ofenrohr verborgen und wurde später von Krause und dem Maler Bernhard Dienemann geborgen. Herrmann konnte sich seiner Verhaftung durch Flucht in die Schweiz entziehen, hatte jedoch bei seiner Abreise erklärt, dass er „wenn irgend möglich“, das angefangene Vorhaben zu Ende führen werde. Die restlichen Magdeburger Genossen gaben ihr Ansinnen ebenfalls nicht auf. Sie erwogen, den „Rebell“ fortan selbst – und zwar im Harz – zu drucken. Die wiederholten Versuche Krauses, Geld zur Finanzierung des Vorhabens aufzutreiben, hatten jedoch keinen Erfolg, so dass das Unternehmen schließlich doch aufgegeben werden musste. [47]

Andere Zeitungsprojekte waren indes erfolgreicher, wenn sie auch nicht direkt von den Magdeburger Anarchisten initiiert waren. Im April 1885 kam der zuvor u.a. in der Redaktion der Mostschen „Freiheit“ in London tätig gewesene Karl Schneidtnach Magdeburg. Er galt sowohl bei Polizei, als auch Sozialdemokraten als Anarchist, schloss sich jedoch, da er sich „seine persönliche Freiheit vollständig wahren und sich weder unter die Fuchtel der sozialdemokratischen Partei noch der anarchistischen stellen“ wollte, keiner der damals in Magdeburg bestehenden Organisationen an.[48] Er gründete noch im selben Monat die „Magdeburgische Gerichtszeitung“[49] und im Juli die „Deutsche(n) Volksblätter – eine unabhängige Monatsschrift für denkende Leser“. Erstere kann man wohl als eine jener damals üblichen vordergründig „unpolitischen“, jedoch sozialistisch inspirierten Zeitungen ansehen, die über den bloßen Broterwerb der Redakteure hinaus auch der Geldsammlung für Verfolgte dienten. Immerhin konnte die 10seitige Wochenzeitung schon im Gründungsjahr einen für die Kostendeckung ausreichenden Abonnentenstamm von 3000 Lesern verzeichnen. Im August 1886 übernahm der eigens dafür nach Magdeburg übergesiedelte Freund Schneidts, Harry Kaulitz, die Redaktion. Anfang 1887 gründete er sogar eine zusätzliche Tageszeitung mit dem Titel „Neues Magdeburger Tageblatt“, der fortan die „Gerichtszeitung“ beigelegt wurde. Laut Polizeiberichten zeigte das Blatt gegenüber „Behörden und öffentlichen Beamten“ eine „geringschätzende, in den Schmutz ziehende Tendenz“, mehrere Artikel gaben „Veranlassung zum strafrechtlichen Einschreiten“. [50] Die Auflage stieg 1887 auf bis zu 7000 Abonnenten, nach Kaulitz’ Wegzug aus Magdeburg im Oktober 1887 begann aber ein stetiger Abstieg des Blattes, das nach Einschätzung der Polizei nun nur noch „eine Sammlung von radikalfortschrittlichen Preßartikeln“ darstellte. [51] Im März 1889 wurde das „Tageblatt“ schließlich aus Mangel an Geldmitteln eingestellt.

Die monatlich im A5-Format erschienenen „Volksblätter“ hingegen hatten Magazin-Charakter und besaßen eine Auflage von ca. 600 Exemplaren. Neben allgemein-politischen und philosophischen Themen kamen die Verhältnisse in der deutschen Sozialdemokratie zur Sprache. Insbesondere das „mutloses Benehmen“ der Parteiführung stieß auf eine scharfe Kritik. Von den Funktionären der gemäßigten Richtung der Magdeburger Sozialdemokratie wurde Schneidt u.a. deswegen bei der Züricher Parteileitung angeschwärzt, die daraufhin eine Warnung vor dem „3fachen Renegaten sozialdemokratischen, Hasselmannschen und sozialrevolutionären Londoner Angedenkens“ im „Sozialdemokrat“ [52] abdrucken ließ. Zudem wurde das Gerücht lanciert, Schneidt stände in Diensten der Polizei, die auch die Herausgabe der „Volksblätter“ angeregt habe. Vermutlich haben solche Diffamierungen [53] dazu beigetragen, dass das Erscheinen der „Volksblätter“ nach nur 5 Nummern eingestellt werden musste.

Die politische Polizei in Berlin schätzte schließlich in ihren Lageberichten Magdeburg wiederholt als eines der Zentren des organisierten Anarchismus in Deutschland ein. So z.B. im November 1884, als man zudem feststellte, dass in Magdeburg – neben Berlin, dem Wuppertal und anderen Gegenden am Rhein – genügend „geeignetes Material“ vorhanden sei, das den „Lockungen“ der anarchistischen „Fanatiker“ erliegen könnte. [54]

Die Affäre Drichel

Neben der Organisierung des Vertriebes von Druckschriften nach Deutschland gab es in den 1880er Jahren außerhalb und innerhalb Deutschlands auch Bestrebungen, dem Sozialismus bzw. der Anarchie mit gewaltsamen Mitteln zum Durchbruch zu verhelfen. In dieser Hinsicht bildete Magdeburg anscheinend keine Ausnahme, denn der dortigen Polizei wurden wiederholt – angebliche oder tatsächliche – Attentatspläne der Anarchisten zugetragen.[55] So soll Krause gegenüber Drichel geäußert haben, „er wolle thun, was in seinen Kräften stünde, um den Belagerungszustand auch nach hier zu bringen. Erst wenn der Belagerungszustand noch an vielen anderen Orten wäre, käme die Agitation in Fluss.“[56] Außerdem sollen Überfälle in Erwägung gezogen worden sein, um Geld für Propaganda und die Unterstützung von Familien der Ausgewiesenen zu beschaffen.

Adressbuch Buckauer 4

Auszug aus dem Magdeburger Adressbuch von 1887

Einer realen Grundlage entbehrten die Meldungen jedenfalls nicht. So gab es diverse Versuche Magdeburger Anarchisten, sich Sprengstoff zu verschaffen. Dazu bot sich z.B. in den verschiedenen Bergwerken im Umland die Möglichkeit, über dort beschäftigte Gesinnungsgenossen an entsprechendes Material heranzukommen. So soll angeblich der Sudenburger Anarchist und Hilfsarbeiter Gustav Kühne versucht haben, über seinen in einem Bergwerk im Harz beschäftigten Schwager Dynamit zu beschaffen. Auch hatten die Anarchisten erwogen, sich in den Zechen der Umgebung um Arbeit zu bemühen, weil eben nirgends besser als dort an das vermeintlich die revolutionären Befreiung befördernde Dynamit heranzukommen war. Die diesbezüglich ausbleibenden Erfolge mögen Krause dazu bewogen haben, an seine Kontaktperson in die USA zu berichten, dass „Elemente zur That in Magdeburg genug vorhanden (seien), aber es fehle an Material, es sei ihm lieb, wenn ihm fertiges Material geschickt würde“. [57]

Zur Anwendung von Sprengstoffen durch Anarchisten sollte es jedoch in Magdeburg nicht kommen. Den Ermittlungsergebnissen der Polizei zufolge ist allerdings einmal geplant worden, mittels noch zu beschaffender Explosivstoffe das Magdeburger Polizeigebäude in die Luft zu sprengen. Im Mittelpunkt jenes Geschehens stand Robert Drichel, zu diesem Zeitpunkt ein Mann von 25 Jahren, der aufgrund seiner Aktivitäten für die Sozialdemokratie aus Berlin ausgewiesen worden war. Kurz zuvor hatte er sich jedoch von dieser abgewandt, weil er, wie er selbst sagte, „im Verkehr mit ihnen viele Schurkereien und schmutzigen Eigennutz kennen gelernt hatte“. Unter dem Einfluss des Schneiders Otto Krebs hatte er sich der Ideenwelt des Anarchismus genähert, ohne sich in Berlin aber anarchistisch zu betätigen. Nach seiner Ausweisung aufgrund einer Fahnenhissung am Todestag Lassalles im August 1884 wandte er sich nach Magdeburg und bezog bei Gustav Krause Quartier, den er vermutlich über den gemeinsamen Freund Krebs kannte. [58]

In Magdeburg hatte er sich dann voll und ganz der anarchistischen Sache verschrieben. Er pflegte engen Kontakt mit den hiesigen Anarchisten, agitierte unermüdlich und engagierte sich beim Vertrieb der anarchistischen Zeitungen „Freiheit“ und „Rebell“. Drichel hat sich auch intensiv mit der Lektüre anarchistischer Schriften beschäftigt, so dass er schließlich um 1886 selbst in der Lage war, Vorträge zu halten. In einer dieser Agitationsveranstaltungen – im Neidschen Restaurationsgarten im Sommer 1886 – soll er laut Zeugenaussagen das „Parlamentiren und Pactiren“ der Sozialdemokratie kritisiert haben. Stattdessen schlug er die Bildung von geheimen Gruppen vor. Dazu seien die Ideen des Anarchismus möglichst unentwegt zu propagieren, insbesondere durch die Verbreitung der anarchistischen Druckschriften. In diesen waren damals auch wiederholt Anweisungen zur Herstellung von Spreng- und Brandmitteln abgedruckt, was – wie der Staatsanwalt später meinte – unmittelbar zur Folge hatte, dass Drichel den Wunsch verspürte, sich Sprengstoffe zu verschaffen. Er soll zudem des öfteren behauptet haben, dass „das Indieluftsprengen öffentlicher Gebäude das wirksamste Agitationsmittel“ sei. [59]

Drichel hielt in seiner Magdeburger Zeit intensiven Kontakt mit Genossen im Ausland, u.a. zu Peukert in London und zu Neve in Belgien, der den Vertrieb der „Freiheit“ nach Deutschland maßgeblich organisierte. Aufgrund der offensichtlich regen Korrespondenz hat Neve schließlich im Sommer 1886 Drichel angeboten, nach Belgien zu kommen, wo dieser ihn beim grenzüberschreitenden illegalen Transport von Druckschriften unterstützen sollte.

Um die Jahreswende 1885/86 gelang es den Anarchisten um Neve schließlich, in den Besitz einer gewissen Menge an Sprengstoffen zu kommen. In einem Brief an Drichel schrieb Neve im Frühjahr 1886, dass er „außer Papier gute andere Sachen“ hätte, wenn sie in Magdeburg dafür Gebrauch hätten, würde er die Übermittlung veranlassen. Anfang September ging der Angesprochene auf das Angebot ein, seine entsprechende Order bei Neve versah er mit dem Zusatz „Rache ist süß, für den Erfolg brauchst Du nicht zu sorgen!“[60] Und tatsächlich traf am 21. September 1886 eine Kiste [61] in Sudenburg bei Böhme, einem Arbeitskollegen Drichels ein. Sie war diesem als eine „Sendung mit Mehlwürmern“ avisiert worden, von der, wie er sagte, seine Frau nichts wissen sollte. Böhmes Ehefrau, die ebenfalls in Unkenntnis belassen worden war, verweigerte zunächst die Annahme, ließ die Sendung dann aber doch von der Post abholen. In Beisein des Postboten öffnete sie das Paket in ihrer Wohnung, so dass der einen Blick auf den Inhalt werfen konnte und Verdacht schöpfte. Der Kollege machte daraufhin der Polizei Meldung von dem Vorfall, die Drichel umgehend verhaftete. Krause und Genossen hatten inzwischen das Material beiseite geschafft und den Brief verbrannt. Offensichtlich waren die Verstecke jedoch nicht gut gewählt, denn die Polizei konnte den gesamten Inhalt der Sendung schon kurze Zeit später beschlagnahmen. Die Paketkarte und der beigefügte Brief sollen die Handschrift Neves getragen haben, was im Prozess gegen Neve ein Jahr später durch ein Gutachten bestätigt worden ist. [62]

Drichel wurde daraufhin zur Untersuchungshaft ins Magdeburger Gerichtsgefängnis überführt. Dasselbe Schicksal ereilte seine Genossen Krause, Dienemann, den Schlosser Robert Brandt und den Gussputzer Friedrich Wille, die der Begünstigung Drichels bezichtigt wurden. Sie wurden jedoch bald wieder auf freien Fuß gesetzt, da ihnen außer der Verbreitung von Druckschriften nichts nachgewiesen werden konnte. Drichel hingegen räumte nach einigen Tagen hartnäckigen Leugnens ein, „Sprengstoffe von Neve aus Belgien erhalten zu haben, mit der Absicht, das Dienstgebäude der Königl. Polizei in die Luft zu sprengen.“ [63] Er widerrief diese Aussage zwar später wieder und versuchte sich mit der Aussage zu entlasten, dass er mit der Sprengstoffbestellung sich lediglich habe wichtig machen wollen. Dann gab er aber doch zu, dass er am Vormittag des 22. September, also unmittelbar vor seiner Verhaftung, spontan den Entschluss gefasst habe, das Gebäude zu sprengen. Später schilderte er noch weitere Versionen. So gab er an, dass er von dem Ottersleber Schlosser Fritz Köster [64] angestiftet worden sei, der mit einem Anschlag dem dortigen Amtsvorsteher Koch einen „Denkzettel“ habe verpassen wollen. In der Hauptverhandlung hingegen gab er zu Protokoll, er habe sich durch den Verkauf der Chemikalien nur bereichern wollen.

Diese ständigen Widerrufe haben dann wohl auch dazu geführt, dass Drichel, trotz seiner detaillierten Aussagen über die anarchistische Bewegung in Magdeburg, kaum Strafnachlass erhielt. Drichel wurde am 18. Januar 1887 vom Magdeburger Schwurgericht zu 5 Jahren und 2 Monaten Zuchthaus verurteilt. Dem Gericht galt als erwiesen, dass er sich Sprengstoffe mit der Absicht beschafft habe, „durch Anwendung derselben Gefahr für das Eigentum anderer herbeizuführen“. Die in mindestens drei Fällen erfolgte Verbreitung des verbotenen „Rebell“ kam nach Auffassung des Gerichts noch erschwerend hinzu, so dass das Urteil letztlich das von der Staatsanwaltschaft beantragte Strafmaß noch um ein Jahr überschritt.

Der Prozess gegen Drichel sollte noch ein Nachspiel haben. Am 9. Oktober 1886 ging bei Böhme ein Brief aus Belgien ein, in dem sich für das ihm zugefügte „Ungeschick“ entschuldigt wurde. Absicht sei lediglich gewesen, „ihm, dem Böhme, eine kleine Freude zu bereiten und einige laufenden Nummern ‚unserer’ Litteratur zukommen zu lassen“. Durch ein Versehen sei aber ein Paket, das für eine andere Person bestimmt war, an ihn abgeschickt worden. Offensichtlich hatte damit Neve versucht, Drichel zu entlasten, in der Annahme, dass Böhme den Brief an die Polizei weiterleiten werde (was dieser schließlich auch getan hat). Gedankt hat Drichel ihm es allerdings nicht. Denn mit seinen umfangreichen Aussagen trug er dazu bei, dass das Strafmaß im Prozess gegen den kurze Zeit später verhafteten Neve mit 15 Jahren Zuchthaus drakonisch ausfiel. [65] Krause hingegen distanzierte sich bei seiner Zeugenvorführung beim Prozess gegen Neve von seinem ehemaligen Freunde Drichel und „kehrte den verbissenen Anarchisten hervor“. Er „räumt(e) nur mit Widerstreben, und stets erst nach erfolgter Vorlesung die Richtigkeit der früheren, in der eigenen Voruntersuchung gemachten, den Neve ziemlich belastenden Aussagen ein“, wie die in den Prozessakten vermerkt worden war. Vermutlich hatte Krause ihn in der Annahme, er sei in Sicherheit, belastet, um die eigene Schuld geringer darzustellen. Das Gericht wies in den Akten abschließend darauf hin, dass „Krause (...) nach seiner Strafverbüßung besonderer Überwachung bedürfen“ werde. [66]

Gegen die gemeinsam mit Drichel verhafteten Genossen wurde erst am 10. Mai 1887 prozessiert, doch konnte ihnen dabei eine Beteiligung an den Anschlagsplanungen nicht nachgewiesen werden. Die Anschuldigungen reduzierten sich auf den Tatbestand der „fortgesetzten Verbreitung verbotenen Schriftgutes“. Insbesondere wurde ihnen zur Last gelegt, „in den letzten 5 Jahren die anarchistischen Zeitungen ‚Die Freiheit’ und ‚Der Rebell’ in vielen Exemplaren in London bestellt, an mehrere Personen versandt und auf Straßen und Plätzen verstreut zu haben.“ [67] Bei dem so genannten „Anarchisten-Prozess“ wurde ein immenser Aufwand betrieben, im „Sozialdemokrat“ wurde hervorgehoben, dass es eine „sehr umfangreiche Beweisaufnahme“ gegeben habe. 18 Zeugen waren aufgeboten, darunter Drichel, der seine ehemaligen Genossen mit seinen Aussagen belastete.[68] Der Hauptvorwurf, nämlich Rädelsführer zu sein, fiel auf Gustav Krause. Dementsprechend wurde er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt, die Mitangeklagten Dienemann, Brandt und Wille erhielten jeweils 4, 3 und 2 Monate Gefängnis; ein weiterer, der Kesselschmied Friedrich Jensch, wurde freigesprochen.

Das „widersetzliche Ottersleben“

Die Drichel-Affäre zog ihre Kreise bis in die umliegenden Dörfer, insbesondere nach Groß Ottersleben. Dort existierte schon seit einiger Zeit ein sehr rühriger Fachverein, der den Ort zu einer Hochburg der regionalen Arbeiterbewegung machte. Groß Ottersleben war, wie auch einige andere Dörfer des damaligen Kreises Wanzleben im Süden von Magdeburg, durch eine Bewohnerschaft geprägt, die vorwiegend in den Industriebetrieben Magdeburgs, Sudenburgs und vor allem Buckaus Arbeit und Einkommen fand. In Groß Ottersleben wohnten damals ca. 5.000 Menschen, wovon etwa 80% dem Industrie-Proletariat angehörten.[69]

Noch zu Beginn des Sozialistengesetzes existierte im gesamten Kreis Wanzleben keine nennenswerte sozialdemokratische Bewegung. Das sollte sich jedoch bald grundlegend ändern. 1884 wurde vermeldet, dass die „sozialrevolutionären Zeitungen ‚Freiheit’ und ‚Rebell’, sowie Flugschriften gleicher Tendenz“ in Buckau und Groß Ottersleben eingeführt worden waren.[70] Auch tauchten z.B. in der „Freiheit“ immer wieder Berichte aus Groß Ottersleben auf, bei denen die Polizei über die Urheberschaft spekulierte. [71] Im selben Jahr wurde in Groß Ottersleben der „Fachverein für verschiedene Berufsgenossen“ ins Leben gerufen. Als Vorsitzender des Vereins fungierte der Tischler Heinrich Veelmann aus Groß Ottersleben, doch als dessen ideeller Leiter galt der aus Berlin ausgewiesene Sozialist Max Sendig[72], der in der Vereinssitzung vom 1. März 1885 in den Vorstand der ca. 200 Mitglieder zählenden Gewerkschaft gewählt worden war. Die Vereinsgenossen entfalteten eine aktive Agitation. Laut Polizei wurden in den Vereinsversammlungen fortwährend „aufreizende Reden“ gehalten, in denen die Arbeiter „gegen ihre Arbeitgeber aufgehetzt“ worden sein sollen. [73] Auch Ereignisse, wie z.B. das Begräbnis eines Mitglieds [74] wurden genutzt, um ein öffentliches Bekenntnis für die Sozialdemokratie abzulegen. Zur alljährlichen Feier des 18. März, dem Jahrestag der Pariser Kommune von 1871 sowie der Revolution von 1848, war 1886 am Vorabend des Jahrestages in der Nähe eines Weges, den die Arbeiter allmorgendlich passierten, eine Fahne mit der Losung „Hoch die soziale Revolution und die Vorkämpfer des 18. März!“ „in luftiger Höhe“ an einer Telegrafenleitung angebracht worden. [75]

Nachdem dem Verein auf Betreiben von Behörden und Bürgerschaft des Ortes immer wieder die Räumlichkeiten für Versammlungen verweigert worden waren, wurde die Einrichtung eines eigenen Lokals beschlossen. Zu diesem Zweck erwarb man Anfang 1885 ein Hausgrundstück in der Breiten Straße Nr. 7 (heute Altottersleben Nr. 7). Dort fanden, wie die stets aufmerksame Polizei akribisch ermittelte, „fast jeden Abend“ Versammlungen statt, bei denen Bier zu „billigen Preisen“ und „ohne Genehmigung“ ausgeschenkt werde und die Besucher regelmäßig „bis über die Polizeistunde hinaus“ diskutierten. [76] Im Vereinslokal traten zahlreiche auswärtige Redner auf, in der Regel vor einem Publikum von ca. 100 und mehr Personen. Der beobachtende Beamte kam zu der Meinung, dass „alle Reden politischen Charakter“ trügen und dazu führten, dass, „das Volk nicht mehr die hiesige Behörde, sondern den genannten Sendig als ihren Beschützer“ betrachteten. [77]

Den Überwachungsbehörden gelang es zunächst nicht, eine Handhabe zu finden, den Verein zu verbieten, da die „Fachler“, wie die Mitglieder im Ort auch genannt wurden, entsprechend vorsichtig agierten. Offensichtlich musste ein wenig nachgeholfen werden, um einen entsprechenden Anlass zu schaffen. Man nutzte eine Nachlässigkeit Sendigs aus, der vergessen hatte, die Anmeldebescheinigung für eine Veranstaltung am 13. Juni 1885 zum Versammlungsort mitzubringen. Als der Überwachungsbeamte das bemerkte, erklärte er die Versammlung sofort für geschlossen. Er forderte die Anwesenden, ca. 200 an der Zahl, auf, sich wieder nach Hause zu begeben. Nach „einigen Schwierigkeiten“ und unter Ausstoß von Drohungen wurde der Aufforderung Folge geleistet. Die Versammelten begaben sich ins benachbarte Benneckenbeck in den Glindemannschen „Gasthof zum weißen Schwan“, wo gerade ein Landwehrfest stattfand.[78] Dort soll von einem Anwesenden gerufen worden sein: „Nobiling, der Attentäter, ich bin der Attentäter, der Attentäter Nobiling soll leben.“[79] Als die Polizei den Rufer festnehmen wollte, eskalierte die Situation. Die Beamten wurden schließlich durch einen Steinhagel zum Rückzug gezwungen. Dabei wurde einer der Arbeiter durch einen Schuss verletzt. Die wütende Menge verfolgte die abziehende Polizei, die erst nachdem Verstärkung aus Magdeburg eingetroffen war, der Situation wieder Herr wurde. Der Arbeiter Carl Koßmann, den man als einen der Rädelsführer ausmachte, wurde wegen Aufruhrs verhaftet und nach Magdeburg ins Gefängnis überstellt. Am anderen Morgen wurden zahlreiche weitere Arbeiter festgenommen und „paarweise gefesselt ins Gerichtsgefängnis Magdeburg eingeliefert“. [80] Sie wurden schließlich zu Haftstrafen von bis zu 18 Monaten Zuchthaus verurteilt. Aus Sicht der Staatsanwaltschaft fielen die Urteile angesichts der Schwere der Straftaten recht milde aus. Vermutlich diente diese vermeintliche Milde dazu, keinen weiteren Aufruhr zu provozieren. [81] Der Landrat von Wanzleben konnte zwar einen Monat nach dem Aufruhr vermelden, dass die „die besseren Elemente“ im Ort die Anwesenheit der zusätzlichen Gendarmen durchaus begrüßen würden. Solange aber die „Rädelsführer“ wie Sendig im Ort weilten, könnten diese Vorsichtsmaßnahmen nicht aufgehoben werden, da „der größte Theil der in Gr. Ottersleben überwiegenden Arbeiterbevölkerung (...) im Geheimen auf Seiten der Tumultianten“ stehe. [82]

Kurz nach jenen „Excessen“, wie es in den Berichten der Obrigkeit hieß, traf im August 1885 der Schlosser Friedrich Köster[83] in Groß Ottersleben ein. Die dort vorhandenen Arbeitsmöglichkeiten und die kurz zuvor stattgefundenen Unruhen haben dafür – wie er sich später erinnerte – den Ausschlag gegeben: „In Groß Ottersleben fand ich zunächst alles, was für meine geistigen, agitatorischen, organisatorischen und ökonomischen Bedürfnisse vonnöten war,“ nämlich „günstige Lebensbedingungen, eine durch Lohnarbeiter geprägte Bewohnerschaft“ und einen kleinen Kreis „aufrechter, selbständiger, innerlich gefestigter Männer“. Mit denen gedachte er den „aus schweren Wunden blutenden Organisationskörper“ des Fachvereins wieder zu reaktivieren. [84] Kurze Zeit nachdem Köster dem Fachverein beigetreten war wanderte Sendig wegen der gegen ihn laufenden Strafprozesse nach Amerika aus. Köster trat praktisch dessen Erbe an, der Fachverein berief ihn dann auch zum Vorsitzenden.

Schließlich konnte sich der Fachverein, der infolge der Repression beinahe aufgelöst war, wieder konsolidieren. Bereits im Herbst 1885 zählte man ebenso viele Mitglieder, wie vor den Juni-Ereignissen und es wurden wieder regelmäßig Versammlungen durchgeführt. Im Januar 1886 wurde beschlossen, eine Kampagne zum Massenaustritt aus der Landeskirche zu beginnen. Dies geschah mit dem erklärten Ziel, die Jugend vom Einfluss der Kirche zu befreien und diese zu „freisinnigen Leuten“ zu erziehen. Dazu wurde ein Comité unter Kösters Leitung gebildet und Kontakt zur Magdeburger freireligiösen Gemeinde aufgenommen. Am 6. Februar 1886 fand im Fachvereinslokal eine erste öffentliche Versammlung mit deren Sprecher, Dr. Titus Völkel, und „einer Schar herrgottsfeindlicher Männer aus Magdeburg“ statt. [85] Im Gefolge der Kampagne traten insgesamt 128 Arbeiterinnen und Arbeiter aus der Kirche aus. Die Kirchenaustritts-Bewegung von 1886 sei „die Rache der Arbeiter unserer Dörfer für die ihnen zugefügte Unbill an Gut und Blut aus dem Jahre 1885“ gewesen, resümierte Köster später.[86]

Unter Kösters Leitung intensivierten sich auch die Kontakte zur anarchistischen Gruppe um Krause, wie auch zur Magdeburger Opposition. Köster war zu diesem Zeitpunkt noch kein erklärter Anarchist, er fühlte sich dem „äußersten linken Flügel“ [87] der Sozialdemokratie verbunden. Für die  Polizei war er aber „weit gefährlicher, als es Sendig war, er bewahrt immer den äußeren Schein, geht schlau und vorsichtig zu Werke, desto mehr aber wühlt und schürt er im Geheimen.“ [88] Im Februar 1886 berichtete der Amtsvorsteher von Groß Ottersleben nach Berlin, dass „der hiesige Fachverein in seinen Versammlungen und auch anderweit der Sammelpunkt der in Magdeburg und Umgegend wohnenden ausgewiesenen Socialdemokraten und Anarchisten“ geworden sei. [89] Groß Ottersleben war zu einer lokalen Hochburg der Arbeiterbewegung geworden, die es sogar bis in die (reichsweiten) Übersichten der Berliner politischen Polizei über „die allgemeine Lage der sozialdemokratischen und revolutionären Bewegung“ schaffte, was für einen Ort dieser Größe eine Seltenheit war. [90]

Die politische Unzuverlässigkeit bedeutender Bevölkerungsanteile, veranlassten die Behörden ihre Suche nach Anhaltspunkten für ein mögliches Verbot des Fachvereins zu intensivieren. Nachdem bereits im Mai 1886 ein Verbotsantrag gestellt worden war, brachten die sichtlich überforderten Beamten des Kreises Wanzleben dafür keine ausreichende Beweisgrundlage zusammen. Zudem wurde versucht, den Vereinsleiter Köster aus dem Ort zu vertreiben. Im Juni 1886 wurde er aufgrund einer Rede vor dem Fachverein, in der er arbeiterfeindliche Praktiken in den Eisenbahnwerkstätten in Buckau gebrandmarkt hatte, wegen Beleidigung zu drei Monaten Gefängnis verurteilt. [91] Im September 1886 beantragte der Landrat in Wanzleben, Köster aus dem Amtsbezirk Groß Ottersleben auszuweisen, wenn dem Fachverein auf andere Weise nicht beizukommen sei. [92]

Die Repressionswelle 1886/87

Letzten Endes wurde das „Problem“ mit den „Fachlern“ auf unverhoffte Weise gelöst. Um die Jahreswende 1886/87 begann sich auch in Magdeburg ein Ende der „milden Praxis“ der Auslegung des Sozialistengesetzes abzuzeichnen. Zunächst wurden im Gefolge der Untersuchungen gegen Drichel und Genossen im November 1886 zahlreiche Anarchisten und Sozialisten aus Buckau, Groß Ottersleben und umliegenden Dörfern verhaftet. Anlass dafür war eine nächtliche Aktion, bei der in der Gegend um Buckau an verschiedenen „Bäumen, Häusern und Scheunen Plakate aufrührerischen Inhalts angeheftet worden“[93] waren. Fünf der Verhafteten wurden der Bildung einer „anarchistischen Verbindung“ bezichtigt. Sie haben sich, so stellte die Staatsanwaltschaft fest, „fast sämmtlich in der Gefolgschaft des Drichel und anderer hier wohnender Anarchisten befunden“ und seien „Anhänger des extremen Socialismus, beziehungsweise des Anarchismus.“ [94] Für den Magdeburger Polizeipräsidenten von Arnim galt damit das „Vorhandensein anarchistischer Gruppen“ in den Vororten und Dörfern im Süden Magdeburgs als erwiesen. [95] Wegen Verbreitung anarchistischer Druckschriften wurden am 9. Februar1887 Köster zu 1,5 Jahren Gefängnis, Jensch und Meurer zu je 9 Monaten und Günther zu 8 Monaten Gefängnis verurteilt. Die Verurteilung mehrerer führender Aktiver des Fachvereins – Köster bezeichnete der Staatsanwalt als die „Seele der Bewegung“ – und die verschärfte Repressionswelle insgesamt brachte die Aktivitäten des Fachvereins zum Erliegen. Wenn nicht offiziell, so doch faktisch kam dies einer Auflösung gleich.

Zeitgleich mit dem Verfahren gegen Köster und Genossen kam es zu Massenverhaftungen. Am 7. Februar 1887 – unmittelbar vor den Reichstagswahlen – wurden 22 führende Magdeburger Sozialdemokraten festgenommen, vier Tage später folgten weitere Verhaftungen. Betroffen war ein Großteil der Vertrauensleute beider Organisationen (23 Mitglieder der Org. I und 17 der Org. II) [96], das gesamte Wahlkomitee sowie der gerade in Magdeburg weilende Reichstagskandidat Heine. Insgesamt wurden schließlich 44 Sozialdemokraten aufgrund der Bildung geheimer Verbindungen nach §128 des SGB und der Verbreitung verbotener Druckschriften angeklagt. Der so genannte „Geheimbundprozess“ tagte am 16. und 17. Mai 1887 im Schwurgerichtssaal am Tränsberg. Der überwiegende Teil der Vorgeführten räumte den Bezug und die Lektüre sozialdemokratischer Schriften sowie die Sammlung von Geldern für die Ausgewiesenen ein und leugneten auch nicht ab, Anhänger der Sozialdemokratie zu sein. In der Verhandlung verteidigten sich einige der Angeklagten damit, dass die Geheimhaltung der Versammlungen nur deswegen erfolgte, um die „zur anarchistischen Partei angehörigen Mitglieder der Partei“ [97] fernzuhalten. Julius Bremer, der „Vater der Sozialdemokratie in Magdeburg“, führte gar an, dass er den Polizeiinspektor Krieter von der Bildung des Führungs-Comités, in welches Klees, Habermann und er selbst gewählt worden waren, eigens informiert habe. Schließlich gestand der Staatsanwalt zu, dass sich „bei keinem der Angeklagten (...) Neigungen zu Ausschreitungen gezeigt“ haben, denn sie alle erstreben „mit Bremer auf durchaus gesetzlichem Wege eine Verbesserung der Lage der Arbeiter.“ Dennoch verwies er auf „die Gefahr, dass allmählig ein Geist der Unbotmäßigkeit einreißt“, weswegen letztlich eine Bestrafung unerlässlich sei. [98] 12 Angeklagte wurden schließlich mangels an Beweisen freigesprochen, darunter der Reichstagskandidat Heine. Der Rest hatte Haftstrafen zwischen 10 Tagen und 8 Monaten (Klees) zu verbüßen – insgesamt 166 Monate Haft, zuzüglich der Untersuchungshaft, die damals nicht auf das eigentliche Strafmaß angerechnet wurde. Habermann, einer der „Hauptführer der Partei“ war kurz vor dem Verhandlungstermin in Haft verstorben.

Im Gefolge der vier Prozesse wurden die Organisationen der Magdeburger Arbeiterbewegung weitgehend zerschlagen. Die Polizei konnte im September 1887 vermelden, dass „in der Bewegung scheinbar Stillstand eingetreten“ ist. Weder der Vertrieb verbotener Schriften, noch illegale Versammlungen ließen sich noch feststellen. „Man merkte, dass es überall an Leitung fehlte“, lautete das Fazit. [99] Erst der allgemeine Aufschwung der Arbeiterbewegung in der Endphase des Sozialistengesetzes 1889/90 brachte wieder frischen Wind in das Organisationsleben der Arbeiterbewegung.

Literaturverzeichnis

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Fußnoten

[1] Der Syndikalismus ist eine Ende des 19. Jahrhunderts zuerst in Frankreich entstandene Strömung von revolutionären Gewerkschaften (frz.: syndicat), die sich dem allgemeinen Trend der Bürokratisierung und Zentralisierung der Arbeiterbewegung sowie der zunehmenden Dominanz von parlamentarisch-politischen Parteien widersetzten. Sie plädierten stattdessen für die revolutionäre Überwindung der kapitalistischen Ordnung mittels des Generalstreiks. Die Syndikate galten nicht nur als Orte der Organisierung der Arbeiter im Kampf gegen das Kapital, sondern waren zudem als „Keimzellen der sozialistischen Produktion“ in der künftigen Gesellschaft konzipiert, wodurch die Entstehung neuer Herrschaftsformen, wie z.B. eine „Diktatur des Proletariats“, vermieden werden sollte.

[2] Drechsler, Ingrun: Die Magdeburger Sozialdemokratie vor dem Ersten Weltkrieg. Oschersleben 1995. Die Autorin streift die gerade in Magdeburg wichtige Bewegung der „Jungen“ aber nur oberflächlich.

[3] Herlemann, Beatrix: Wir sind geblieben, was wir immer waren, Sozialdemokraten. Das Widerstandsverhalten der SPD im Parteibezirk Magdeburg-Anhalt gegen den Nationalsozialismus 1930-45. Studien zur Landesgeschichte, Halle 2001

[4] http://www.bis.uni-oldenburg.de/dissertation/2000/gohrae99/pdf/gohrae99.pdf (Universität Oldenburg, Diss., 1999)

[5] Mader, W(illy): Zur Bewegung der „Jungen“ in der Magdeburger Sozialdemokratie (1890/91). In: Wissenschaftliche Zeitschrift der TH Otto von Guericke Magdeburg, Heft 4, Magdeburg 1966. Von Paul Kampffmeyer, einem führenden Protagonisten der „Jungen“, gibt es zudem einen Artikel in der 1910 anlässlich des Parteitages der SPD in Magdeburg herausgegebenen Festschrift „Von Fehden und Kämpfen. Bilder aus der Geschichte der Arbeiterbewegung Magdeburgs“.

[6] MEW 16, S.14f

[7] Zwar vertrat Marx in seinen theoretischen Schriften keineswegs etatistische oder parlamentaristische Auffassungen. In den sozialistischen Parteien, die sich auf ihn beriefen, waren solche jedoch weit verbreitet. Diese basierten nicht allein aus einem falschen Verständnis Marx’scher Theorie, sondern wurden auch durch dessen taktische Wendungen im Kampf gegen die „Antiautoritären“ genährt. Marx hat – besonders in der Auseinandersetzung mit Bakunin – aus taktischen Erwägungen nicht selten Positionen in der IAA unterstützt, die ihm ideologisch ferner standen, als die seiner Gegner. So setzte er z.B. auf dem Haager Kongress von 1872 durch, dass die Konstituierung als politische Partei (und damit auch eine Wahlteilnahme) für die IAA-Sektionen faktisch obligatorisch wurde – worüber es schließlich zur Spaltung der IAA kam.

[8] Er veröffentlichte 1844 in Leipzig sein Hauptwerk „Der Einzige und sein Eigentum“.

[9] Vgl. Carlson 1982, S. 207

[10] Am 11. Mai 1878 schoss in Berlin der 21jährige, arbeitslose Klempnergeselle Max Hödel auf den in einer Kutsche vorbeifahrenden Kaiser, verfehlte ihn aber; am 2. Juni fügte der 30jährige Nationalökonom Dr. Carl Nobiling mit seiner Schrotflinte dem Kaiser schwere Verletzungen zu.

[11] Der „Rebell“ stand unter der Federführung des österreichischen Anarchisten Josef Peukert und wurde 1886 von der Zeitschrift „Autonomie“ abgelöst, deren Erscheinen 1893 eingestellt wurde.

[12] Um den auch heute noch üblichen Gleichsetzungen von Anarchie und Chaos, Gewalt vorzubeugen: Zwar propagierten Anarchisten in Deutschland anfänglich auch individuelle Gewalttaten. Das war aber zu Zeiten des repressiven Wilhelminischen Obrigkeitsstaates keine alleinige Domäne der Anarchisten. Erinnert sei hier nur an den Anschlag des aus Magdeburg-Neustadt stammenden Böttchergesellen Eduard Kullmann auf den Reichskanzler Bismarck aus Anlass des sog. Kirchenkampfes 1874. Vgl.: Asmus 2005, S.324ff

[13] Statistisches Amt 1935, S. 36

[14] Vgl. Asmus 2005, S.218 und 245

[15] Asmus 2005, S.188

[16] Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt Magdeburg (LHASA), Rep C28 Ia Nr. 120, Bd. 2

[17] LHASA, Rep C20 Ib Nr. 1798, Bd. 1, Bl. 46

[18] LHASA, Rep C28 Ia Nr. 120, Bd. 2, Bl. 34

[19] LHASA, Rep C28 Ia Nr. 120, Bd. 2, Bl. 270

[20] LHASA, Rep C28 Ia Nr. 120, Bd. 2, Bl. 304

[21] LHASA, Rep C28 Ia Nr. 120, Bd. 3, Bl. 45

[22] Landesarchiv Berlin (LAB), A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 11662, Bl. 13ff

[23] Cyclop 1911 Nr.18

[24] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 11662, Bl. 161f

[25] Im September 1886 zählten laut Polizeiberichten 62 Genossen zur radikalen Richtung. Vgl. LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr.: 11662, Bl. 177

[26] Die Organisation II hatte für den Kongress in St. Gallen 1887 Schneidt als Delegierten Magdeburgs vorgeschlagen, was die Organisation I unbedingt verhindern wollte, womit sie sich schließlich auch durchsetzte. Vgl. LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 13170, 248

[27] Sozialdemokrat. Organ der Sozialdemokratie deutscher Zunge. Nr. 33, Zürich 1886

[28] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 11662, Bl. 178

[29] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 14680, Bl. 171ff

[30] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 14681, Bl. 214

[31] So z.B. im Dezember 1880 neben div. Nummern der „Freiheit“ die Broschüre „Tactic contra Freiheit“ von Most und im August 1882 eine Sendung mit den Flugschriften „Parteigenossen“ und „Unsere Lage“. Vgl. LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 14682, Bl. 209 sowie Fricke/Knaack 1983, S. 221 und LHASA, Rep C28 Ia Nr. 845 Bd. 4, Bl. 79.

[32] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 11662, Bl. 75

[33] Neve (1846–1896) war ein Tischler aus Schleswig und laut Polizei „die Seele der anarchistischen Agitation“ in Deutschland. Er organisierte „mit außerordentlichem Eifer und Ausdauer und vor allem mit vollkommener Uneigennützigkeit“ von London und ab Herbst 1885 von Belgien den Vertrieb der „Freiheit“ sowie des „Rebell“ nach Deutschland. Er wurde 1887 in Lüttich (Belgien) aufgrund von Informationen eines Polizeispitzels verhaftet, an die deutsche Polizei ausgeliefert und im Oktober 1887 vom Reichsgericht in Leipzig zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Vgl. LHASA, Rep C29 Tit. II, Nr. 13

[34] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 13878, Bl. 65

[35] Kommission 1990, D36

[36] So wurden u.a. im Juli 1884 in Magdeburg ein Paket mit 2000 Exemplaren der „Freiheit“, das für Krause bestimmt war, beschlagnahmt, im Frühjahr 1885 ein Paket mit 60 Exemplaren der „Freiheit“ und mehreren Hundert Exemplaren der Broschüren, „Anti-Syllabus“ und „Ceterum Censeo“; im Juli 1886 zwei Pakete mit 75 Exemplaren der „Freiheit“ bzw. 300 Exemplaren des „Rebell“ sowie diversen Broschüren. Die zahlreichen Druckschriften, die in der Stadt eintrafen, waren aber nicht alle zur lokalen Verbreitung bestimmt. Ein nicht unerheblicher Teil wurde von Krause – zumeist nach Berlin, aber auch nach Brandenburg, Braunschweig und diverse Einzelabnehmer in der näheren Umgebung – weitergeleitet.

[37] LHASA, Rep C29 Tit. II Nr. 6, Bd. 1

[38] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 8641, Bl. 170

[39] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 13878

[40] LHASA, Rep C29 Tit. II Nr. 6, Bd.1. Das Gründungstreffen fand im „Restaurationsgarten von Brandenburger“, Lüneburger Str. 19, statt.

[41] LHASA, Rep C29 Tit. II Nr.10, 29ff.

[42] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 14686, Bl. 17

[43] LHASA, Rep C29 Tit. II Nr. 8

[44] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 8642, Bl. 150. Auf dem Treffen waren aus Magdeburg Krause und Drichel anwesend, dazu zwei Berliner und ca. zehn Anarchisten aus Brandenburg.

[45] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 13878. Die Magdeburger wurden von Drichel vertreten, der dort mit mehreren Brandenburger und Berliner Anarchisten zusammen getroffen ist.

[46] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 14686, Bl. 140

[47] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 8642, Bl. 150ff und 329. Herrmann hat in der Schweiz in der Druckerei des „Sozialdemokrat“ gearbeitet. Dabei hat er Einblick in die Zustände innerhalb der Parteileitung und der Partei-Druckerei erhalten, die ihn zum endgültigen Bruch mit der Sozialdemokratie veranlassten. Aus der Schweiz ging er zurück nach Deutschland und ließ sich in Magdeburg nieder.

[48] LHASA, Rep C29 Tit. II Nr. 10, 29ff

[49] Ein Exemplar der Probenummer befindet sich in: LHASA, Rep C28 Ia Nr. 845 Bd.5, Beiheft 1

[50] LHASA, Rep C29 IVo Nr. 21, Bl. 26ff

[51] LHASA, Rep C28 Ia Nr. 845 Bd.7, Bl. 150

[52] Nr.9/1885

[53] Die Magdeburger Anarchisten schickten im August 1886 eine Abordnung in Schneidts Wohnung, um den Wahrheitsgehalt der kursierenden Gerüchte zu prüfen. Schneidt konnte den Verdacht ausräumen, verweigerte seiner Unabhängigkeit wegen aber die Mitarbeit in der anarchistischen Gruppe, pflegte jedoch weiterhin „freundschaftlichen Verkehr“ mit den hiesigen Anarchisten. Vgl.: LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 13878

[54] Fricke/Knaack 1983, S. 249

[55] Inwiefern diese Pläne der Phantasie der Spitzel und/oder Polizisten entstammten, vollmundige Erklärungen der Anarchisten selbst waren oder aber auf der Wahrheit beruhten, lässt sich wohl kaum mehr klären. Nicht vergessen werden sollte die Tatsache, dass in dem Klima einer verschärften Verfolgung, wie es unter dem Sozialistengesetz herrschte, das Spitzelwesen und Denunziantentum blühte, war doch die Versuchung groß, sich mit vermeintlichen oder tatsächlichen Informationen von politischer Tragweite ein Zubrot zu verdienen.

[56] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 13878

[57] LHASA, Rep C29 Tit. II Nr. 13

[58] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 13878. Die sozialdemokratische Partei in Berlin hatte ihm einen Ausweis ausgestellt, welcher die Ausweisung bestätigte und die Genossen am Exilort aufforderte, ihm „sämmtliche Hilfe zu gewähren“.

[59] LHASA, Rep C20 Ib Nr. 1798, Bd. 2.

[60] LHASA, Rep C29 Tit. II Nr. 13

[61] In der Kiste befanden sich neben einigen Ausgaben der Zeitschriften „Freiheit“ und „Rebell“ diverse Chemikalien, drei Dynamitpatronen, Zündhütchen und Zündschnur. Der Sendung war außerdem ein Schreiben ohne erkennbare Unterschrift beigelegt, „welches ein Verzeichniß der übersandten Gegenstände enthielt, auf die Gefährlichkeit des präparierten Phosphors aufmerksam machte, bezüglich der Verwendung auf den mitübersandten Rebell verwies, besagte, dass Löschpapier mit der in der einen Flasche enthaltenen gelblichen Flüssigkeit bestreichen, wenn Pulver darauf gestreut würde, binnen einer viertel Stunde brenne und mit den Worten ‚Glück auf und guten Erfolg’ schloss.“ (LHASA, Rep C29 Tit. II Nr. 13, Bl. 22)

[62] LHASA, Rep C29 Tit. II Nr. 13

[63] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 13878

[64] Köster, ein kurz zuvor aus Hannover nach Groß Ottersleben zugezogener radikaler Sozialist, hielt offensichtlich wenig von Drichel. In seinen Erinnerungen beschreibt er ihn als „klatschsüchtig“, und wenig an „ernsthafter Arbeit“ interessiert: „Auf keinen Fall war von einem solchen Manne zu erwarten, dass er höchsteigenhändig dem anarchistischen Ideal per Dynamit und Nitroglyzerin zum Durchbruch verhelfen würde.“ (Cyclop 1911 Nr. 21)

[65] Vgl. LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 11971, Bl. 7

[66] LHASA, Rep C29 Tit. II Nr. 13, Bl. 17 und LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 11971, Bl. 267

[67] Zeitungsbericht aus der „Germania“ vom 12.5.1887, in: LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 13878. Außerdem soll die Mostsche Schrift „Die freie Gesellschaft“ zur Verbreitung gekommen sein. (Sozialdemokrat Nr.22/1887)

[68] Neben Drichel muss es eine weitere wichtige Quelle für die ermittelnde Polizei in den Reihen der Revolutionäre gegeben haben. In den Akten ist immer wieder von einem „Vertrauensmann“ die Rede, auf den unbedingt Rücksicht genommen werden müsse.

[69] Vgl.: Birk 1982, S. 181

[70] LHASA, Rep C28 Ia Nr. 860, Bd. 1, Bl. 62

[71] Von Drichel wurden Schneidt und Krause als die angeblichen Autoren denunziert. (LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 13878)

[72] Sendig (1852–?) war ein Maschinenbauer aus Löbtau bei Dresden. Er war schon vor dem Sozialistengesetz für die Sozialdemokratie tätig. 1881 ging er nach Berlin und wurde dort u.a. Mitglied des Central-Comités der illegalen Partei. Im Juli 1882 wurde er aus Berlin ausgewiesen, ging zunächst nach Düsseldorf und von dort nach Magdeburg, wo er bei Gruson in Buckau Arbeit gefunden hatte. Im April 1885 zog er nach Groß Ottersleben, um die dort lebenden Arbeiter zu organisieren. Dort war er bereits im November 1884 maßgeblich an der Gründung des „Fach-Vereins verschiedener Berufsgenossen für Groß-Ottersleben und Umgegend“ beteiligt gewesen. Vgl. LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 13132 und Auer 1913

[73] LHASA, Rep C30 A (alt) Wanzleben III Nr. 40, Bl. 9.

[74] Friedrich Mylius aus Groß Ottersleben. Bei der Beerdigung, an der sich eine große Anzahl von Parteimitgliedern und -anhängern aus Buckau beteiligten, waren demonstrativ getragene rote Schleifen und Kränze mit roten Blumen zu sehen. Vgl. LHASA, Rep C30 A (alt) Wanzleben III Nr. 40, Bl. 7

[75] Cyclop 1911, Nr. 20

[76] Rep C30 A (alt) Wanzleben III Nr. 40, Bl. 9

[77] LHASA, Rep C30 A (alt) Wanzleben III Nr. 40, Bl. 72 bzw. Rep. C28 If Nr.1887, Bl. 9ff

[78] LHASA, Rep C30 A (alt) Wanzleben III Nr. 40, Bl. 15

[79] Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA-PK), I. HA Rep. 77, Tit.506 Nr.2, Bd.4, Bl. 48f. Nobiling war einer der Attentäter auf Wilhelm I. im Sommer 1878.

[80] Cyclop 1911 Nr.16-17

[81] Cyclop 1911 Nr. 18

[82] LHASA, Rep C30 A (alt) Wanzleben III Nr. 40, Bl. 31

[83] Köster war seit 1880 als engagierter Aktivist der sozialdemokratischen Bewegung bekannt. In Hannover war er maßgeblich am Vertrieb des „Sozialdemokrat“ beteiligt. Gleichzeitig war er als Gewerkschafter aktiv und wurde im Dezember 1884 zum Kongress der Metallarbeiter Deutschlands delegiert, wo er die Bekanntschaft Max Sendigs machte. Als er in Hannover aufgrund seiner Aktivitäten keine Arbeitsmöglichkeiten mehr fand, ging er schließlich nach Magdeburg.

[84] Cyclop 1911 Nr. 16

[85] Cyclop 1911 Nr.19

[86] Cyclop 1911 Nr.19 und 20

[87] Cyclop 1911 Nr.18

[88] LHASA, Rep C30 A (alt) Wanzleben III Nr. 40, Bl. 61. Die Polizei benannte u.a. den Sozialdemokraten Habermann, die Anarchisten Schneidt und Jordan, sowie die aus Berlin ausgewiesenen Sozialdemokraten radikaler Richtung Gläser, Henning und Pötting als Mitglieder des Fachvereins.

[89] LHASA, Rep C30 A (alt) Wanzleben III Nr. 40, Bl. 61

[90] Vgl. Fricke / Knaack 1983, S. 268

[91] Vgl. Cyclop 1911 Nr. 20. Sein Anwalt, der Konservative Frankenberg, hatte zu verstehen gegeben, dass er allein schon aus dem Grund, dass sein Mandant aus dem „widersetzlichen Orte Ottersleben“ käme, nicht viel für ihn ausrichten könne.

[92] LHASA, Rep C30 A (alt) Wanzleben III Nr. 40, Bl. 83

[93] Berliner Tageblatt vom 13.11.1886

[94] LHASA, Rep C28 Ia Nr. 856, Bd. 1, Bl. 7 und 28

[95] LHASA, Rep C20 Ib Nr. 1798, Bd.2, Bl.107

[96] Während des Prozesses wurde die Zugehörigkeit zu den beiden Organisationen genauer unter die Lupe genommen. Die Zahlenangaben stammen aus den Prozessakten, wobei nur ein Teil auf Geständnissen beruhte, der Rest wurde aus den diversen Aussagen von Angeklagten und Spitzeln zusammengereimt. Vgl. LHASA, Rep C28 Ia Nr. 856, Bd. 1, Bl. 121f

[97] Rep C28 Ia Nr. 856, Bd.1, Bl. 108

[98] LAB, A Pr. Br. Rep. 030 Nr. 11662, 205 (Berliner Volksblatt, 21.5.1887)

[99] LHASA, Rep C28 Ia, Nr. 860, Bd. 1, S. 127ff