Ludwig Unruh

Gewerkschaften ein geschichtlicher Abriss

Thesen zur Entwicklung der Gewerkschaftsbewegung in Deutschland von den Anfängen bis heute

Es hat in der Geschichte zum einen immer verschiedene Auffassungen von Gewerkschaften gegeben, die durch unterschiedliche Traditionen in den verschiedenen Ländern zusätzlich variieren. Zum anderen haben Gewerkschaften im Verlaufe ihrer Existenz einen Bedeutungswandel erfahren. Daher ist es schwierig, einen Gewerkschaftsbegriff zu formulieren. Es macht durchaus Sinn, die verschiedenen Formen von Gewerkschaften in ihrer geschichtlichen Entwicklung nachzuvollziehen. Schwerpunkt der Darstellung sind dabei die sozialdemokratisch/sozialpartnerschaftlich orientierten Mainstream-Gewerkschaften der westlichen Länder. Dort sind einerseits die Gewerkschaften historisch zuerst entstanden, zum anderen gibt es über diese weit mehr Informationen, als über die Gewerkschaften in den Ländern der Dritten Welt. Außerdem haben sich sozialpartnerschaftlich orientierte Verbände in den Industriestaaten geschichtlich fast überall durchsetzen können.

Gewerkschaften sind zunächst einmal Vereinigungen von Lohnabhängigen, mit dem Ziel der gemeinsamen Durchsetzung von ökonomisch-sozialen Interessen. Sie dienen in erster Linie dazu, die schwache Verhandlungs- und Durchsetzungsmacht einzelner Arbeiter gegenüber dem Käufer ihrer Arbeitskraft, dem Unternehmer, zu stärken. Zwar ist der Arbeitsmarkt formal betrachtet frei. Sowohl Arbeitskraftanbietern als auch -nachfragern steht es frei, vom Zustandekommen eines Arbeitsvertrages Abstand zu nehmen. Jedoch ist die Ware Arbeitskraft nicht eine Ware wie jede andere. Sie ist immer an einen Menschen gebunden, der seine Reproduktion und die seiner Familie gewährleisten muss. Im Gegensatz dazu hängt die Existenz des Unternehmers i.d.R. nicht vom Zustandekommen des einzelnen Arbeitsvertrages ab. Er kann ggf. auch alternativ auf Rationalisierungsmaßnahmen ausweichen, wodurch der betreffende Arbeitsplatz durch Maschinen ersetzt wird. Lohnabhängige hingegen können meist nur kurze Zeit auf Ersparnisse oder andere Einkommensmöglichkeiten zurückgreifen. Dieser grundsätzliche Benachteiligung der ArbeiterInnen soll somit durch Kartellbildung, d.h. der Aufhebung der Konkurrenz untereinander, entgegengewirkt werden. Darüber hinaus gab es immer wieder Bestrebungen radikaler ArbeiterInnen, Gewerkschaften als Mittel zur Überwindung des Lohnsystems zu verwenden.

Kampf um Anerkennung

Zu Beginn der kapitalistischen Entwicklung bildeten sich solche Koalitionen meist spontan für die Durchsetzung bestimmter Forderungen der ArbeiterInnen und lösten sich anschließend wieder auf. Die ersten auf Dauer angelegten Gewerkschaften waren i.d.R. lokale Berufsvereine, die anders als die Zunftverbände und Handwerkergilden vor- und frühkapitalistischer Gesellschaften nur Arbeiter vereinten und die Meister aus ihren Vereinen ausschlossen. In diesen Vereinigungen organisierten sich zuerst vor allem Handwerker, die versuchten, den Preis ihrer Arbeitskraft dadurch hochzuhalten, indem sie das Angebot an entsprechend qualifizierten Arbeitskräften regulierten. Mit der Ausbreitung der Industrien schlossen sich diese lokalen Vereine zu regionalen und landesweiten Verbänden zusammen.

Gegen diese Verbände gab es von Anfang an Widerstand der Unternehmer und des Staates. Die mit der Industrialisierung sich verstärkende Repression zwang die Arbeiter, sich in Geheimgesellschaften zu organisieren. Die ersten Kämpfe der Arbeiterbewegung hatten daher als ein primäres Ziel die Legalisierung der Gewerkschaften, d.h. die gesetzliche Festschreibung der Koalitionsfreiheit [1]. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde diese in den meisten industrialisierten Ländern Europas und den USA erkämpft, ohne dass dies jedoch zwangsläufig immer zu einer entsprechenden Praxis seitens der Unternehmer geführt hätte.

Neben ihrer Hauptaufgabe, der Erkämpfung von besseren Lohn- und Arbeitsbedingungen, erfüllten die Gewerkschaften noch zahlreiche weitere Bedürfnisse ihrer Mitglieder. Eine besondere Bedeutung hatte die gegenseitigen Unterstützung in Notlagen (Arbeitslosigkeit, Krankheit, Invalidität, Tod...) und bei Arbeitskämpfen (Streik- und Gemaßregelten-Unterstützung). Zudem übernahmen die Gewerkschaften oftmals die Funktion der Arbeitsvermittlung für ihre Mitglieder. Ergänzt wurde dies durch die Gewährung von Reiseunterstützung im Falle eines regionalen Überangebotes an Arbeitskräften, wodurch Niedriglohnkonkurrenz vermieden werden sollte. Mit der zunehmenden Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen entstanden sogenannte Arbeitersekretariate zur rechtlichen Beratung und Unterstützung ihrer Mitglieder. Eine sehr wichtige Rolle spielte auch die Arbeiterbildung, die oft durch die Gewerkschaften oder von ihnen gegründete Arbeiterbildungsvereine organisiert wurde.

Neben der Organisierung der Lohnabhängigen erlangte in einigen Ländern noch die Errichtung von Produzentengenossenschaften als Versuch, eigenen Existenzmöglichkeiten abseits der Lohnabhängigkeit zu schaffen, einige Bedeutung. In England waren das vor allem die sich auf die frühsozialistischen Experimente Robert Owens beziehenden Gildensozialisten, in Frankreich die Anhänger Proudhons, die versuchten, eigene Produktionsgenossenschaften und Tauschbanken aufzubauen.

Auf der anderen Seite gab es Bestrebungen, durch die Gründung von unternehmerfreundlichen Gewerkvereinen, den unabhängigen Gewerkschaften das Wasser abzugraben. So versuchten in verschiedenen Ländern liberale Parteien, eigene Gewerkschaften zu etablieren mit unterschiedlichem Erfolg. Während es in England der Liberalen Partei gelang, mir ihrer LibLab-Politik (Liberal-Labour) relativ weitgehenden Einfluss auf die Gewerkschaftsbewegung zu erlangen, erreichten die entsprechenden Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine in Deutschland nur marginale Bedeutung. Weitaus erfolgreicher war hier die Bismarcksche Politik der Sozialgesetzgebung, die in erster Linie dazu beitragen sollte, der erstarkenden Arbeiterbewegung den Einfluss streitig zu machen. Gleichzeitig erlangten in den meisten Ländern konfessionell geprägte, konservative Gewerkschaften einigen Einfluss.

Im Gegenzug bildeten die Gewerkschaften oftmals eigene, sozialdemokratische/sozialistische Arbeiterparteien, mit denen sie zusammen für Wahlrechtsveränderungen kämpften. Jedoch wurde diese Option bei weitem nicht von allen Gewerkschaften geteilt. Insbesondere die damals noch sehr einflussreiche anarchistisch orientierte Arbeiterbewegung widersetzte sich solchen Bestrebungen, politischen Einfluss auf die Gesetzgebung in den Parlamenten zu erlangen. Die entstehende (anarcho-)syndikalistische Bewegung lehnte die Mitarbeit in staatlichen Institutionen ebenso ab, wie die Trennung von politischem und ökonomischem Kampf. Zudem widersetzten sie sich den Zentralisierungstendenzen der zur Massenbewegung erstarkenden Arbeiterbewegung, denen sie ein föderalistisches Organisationsprinzip entgegenstellte.

Während in den südeuropäischen Ländern und Frankreich die Anhänger Bakunins und Proudhons dominierten, behielten international die marxistischen Parteien und die von diesen beeinflussten Gewerkschaften die Oberhand. Auf dem Londoner Kongress der (Zweiten) Internationale 1896 wurde die innerorganisatorische Auseinandersetzung mit dem Ausschluss der Anarchisten beendet.

Der Aufstieg der Großindustrie um die Jahrhundertwende führte nicht nur zu einem starken Anstieg der Mitgliederzahlen, sondern auch zu einem tendenziellen Wechsel im Organisationsprinzip der Gewerkschaften. Eine Organisierung nach dem Berufsprinzip erwies sich für die effektive Führung von Kämpfen als immer schwieriger, da in den neuen Großbetrieben zahlreiche unterschiedliche Berufsgruppen beschäftigt waren. Außerdem kam es zu einem starken Anstieg der Anzahl der un- bzw. angelernten ArbeiterInnen, die von den alten Berufsverbänden nicht oder kaum organisiert wurden. Daher schlossen sich zu dieser Zeit immer mehr Berufsgewerkschaften zu Industrieverbänden zusammen, die alle Berufe sowie auch die Ungelernten eines Industriezweiges organisierten.

Einen Schritt weiter gingen die 1905 in den USA gegründeten radikalen Industrial Workers of the World (IWW), die eine große industrielle Union anstrebten, die letztlich alle ArbeiterInnen, ungeachtet der Qualifikation, Nationalität, Rasse weltweit umfassen sollte. Nicht zuletzt aufgrund der Erfolge der IWW wurde hingegen durch Unternehmer in den USA quasi als Gegengewicht die Bildung von company unions, d.h. Betriebsgewerkschaften vorangetrieben.

Stabilisierung der Gewerkschaften

Mit der Entwicklung zu Massenorganisationen [2] kam es um die Jahrhundertwende auch zur erheblichen Ausweitung des gewerkschaftlichen Apparates. Zum einen erforderte die anwachsende Mitgliedschaft einen höheren Verwaltungsaufwand, zum anderen ermöglichte das Beitragsaufkommen die Entstehung eines Funktionärsapparates. Diese Schicht von Arbeiterfunktionären verband ihre persönliche Existenz mit der der Organisation, was zu einer Interessensspaltung zwischen den von ihnen vertretenen Mitgliedern und den Eigeninteressen der Funktionäre führte. Zwar hatte auch die Mitgliedschaft ein generelles Interesse am Organisationserhalt. Dennoch kam es immer wieder zu Konflikten zwischen den streng legalistisch orientierten hauptamtlichen Funktionären und radikaler orientierten Teilen der Mitgliedschaft. Die Gewerkschaftsbeamten versuchten daher, allzu militante ArbeiterInnen von ihren Organisationen fernzuhalten und den legalen Rahmen sprengende Aktionen zu verhindern.

Gleichzeitig fanden sich die Unternehmer immer mehr mit der Existenz von Gewerkschaften ab. Zu Beginn des 20. Jh. gab es (nicht nur) in den USA die ersten Stimmen aus dem Unternehmer- bzw. staatlichen Lager, die vernünftige und gemäßigte Gewerkschaften anerkennen wollten. 1910 kam es in den USA zum sogenannten Friedensprotokoll zwischen Gewerkschaft und Management, das ein Unternehmer als ebenso epochemachend wie die Erfindung der Dampfmaschine [3] charakterisierte. In Deutschland, wie auch in den meisten anderen Ländern, stellte der erste Weltkrieg die entscheidende Zäsur im Verhältnis von Gewerkschaften auf der einen, Staat und Unternehmern auf der anderen Seite dar. Die stillschweigende Burgfriedenspolitik der Gewerkschaften für die Zeitdauer des Krieges wurde 1916 mit deren gesetzlicher Anerkennung als Arbeitnehmervertreter belohnt.

Unmittelbar nach Ende des Krieges schlossen Arbeitgeber und Gewerkschaften ein Arbeitsgemeinschaftsabkommen (Stinnes-Legien-Abkommen), das die Anerkennung der Gewerkschaften als berufene Vertretung der Arbeiterschaft, die Bildung eines Systems von Tarifverträgen und Einigungsämtern sowie von Arbeiterausschüssen in den Betrieben beinhaltete. Im Juli 1919 wurde dann auf dem Nürnberger Kongress der freien Gewerkschaften dieses Abkommen mit Zweidrittel-Mehrheit bestätigt und der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) aus der Taufe gehoben. Dieser hatte sich den schrittweisen Übergang zur sozialistischen Gemeinwirtschaft zum Ziele gesetzt und lehnte die Sozialisierung durch Räte ab. Mittel dazu sollten der Ausbau des Systems der Tarifverträge, der betrieblichen Mitbestimmung und der Mitwirkung in Organen der wirtschaftlichen Selbstverwaltung sein.

Gegen diese Politik der Gewerkschaften regte sich im Verlaufe des Krieges zunehmender Widerstand. Vor allem unzufriedene Gewerkschaftsfunktionäre bildeten 1917 die Bewegung der revolutionären Obleute, die ein Jahr später auch führend an den revolutionären Kämpfen in der Novemberrevolution beteiligt war. Mit dem revolutionären Aufschwung kam es auch zu einem rasanten Anstieg der Mitgliederzahlen in den Gewerkschaften. Die Mitgliedschaft in den freien und christlichen Gewerkschaften erreichte Anfang der 1920er Jahre mit ca. 9 Mio. Mitgliedern ihren organisatorischen Höhepunkt. Aber auch die radikaleren Gewerkschaften profitierten von dieser Entwicklung so konnte die syndikalistische Bewegung im gleichen Zeitraum mit ca. 150.000 Mitgliedern ihren organisatorischen Höhepunkt verzeichnen. Das Gleiche gilt für die unionistischen Allgemeinen Arbeiter Unionen, die im selben Zeitraum eine kurze Blüte in Deutschland erlebten. Nach der Niederlage der revolutionären Bewegungen der Nachkriegskrise schrumpften diese Organisationen sehr schnell wieder auf ihren Vorkriegsstand zusammen. Aber auch die gemäßigten Gewerkschaften verloren bis 1926 mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder.

Diese Kämpfe zwangen jedoch die Unternehmer zu einigen Zugeständnissen. So wurde der 8-Stunden-Tag gesetzlich eingeführt und ein System von Erwerbslosenunterstützung geschaffen. Ebenso wurden Tarifverträge ein anerkanntes Mittel der Regulierung von Entlohnung und Arbeitsbedingungen. [4] Mit dem Betriebsrätegesetz von 1920 wurde den Arbeitnehmern das Recht eingeräumt, jeweils zwei Vertreter in den Aufsichtsrat zu entsenden. Allerdings hatten diese kein Stimmrecht. Letztlich war dieses Gesetz, das heute gemeinhin als Beginn der betrieblichen Mitbestimmung in Deutschland postuliert wird, ein symbolisches Zugeständnis an die Rätebewegung.

Im Jahre 1925 wurde die Konzeption der Wirtschaftsdemokratie als Gegengewicht zu radikaleren Konzepten der Gewerkschaften proklamiert. Franz Naphtali hielt dazu auf dem Breslauer Kongress des ADGB ein Referat, in dem er die schrittweise Unterwerfung der Konzerne unter die Kontrolle durch die demokratischen Organe des Staates unter maßgeblicher Beteiligung der Gewerkschaften forderte, wodurch perspektivisch der Übergang zum Sozialismus erreicht werden sollte.

Auf internationaler Ebene wurde bereits vor dem Krieg, 1913, der Internationale Gewerkschafts-Bund (IGB), ein Zusammenschluss der freien Gewerkschaften aus hauptsächlich den europäischen Ländern, gegründet. Nach dem Krieg wurde dieser reorganisiert. Gleichzeitig kam es im Gefolge der Oktoberrevolution in Russland zu zahlreichen kommunistischen Parteigründungen. Diese erlangten auch einigen Einfluss in den Gewerkschaften. Die von kommunistischen Parteien dominierten Verbände schlossen sich 1921 in der Roten Gewerkschafts-Internationale (RGI) zusammen. Deren Einfluss ging jedoch nicht zuletzt infolge innerer Auseinandersetzungen aufgrund der einsetzenden Stalinisierung in den 1920er Jahren rapide zurück. 1928, nach der kommunistischen Wende zur Einheitsfront-Politik, verhandelte die RGI mit dem IGB über einen Zusammenschluss beider Internationalen. Nachdem diese Verhandlungen aufgrund des Widerstandes der reformistischen Gewerkschaften gescheitert waren, erfolgte eine weitere Wendung. Auf dem Kongress der RGI im August 1928 wurde nun versucht, in den reformistischen Gewerkschaften Einfluss zu erlangen. Organisatorischer Ausdruck dieser Politik wurde die Rote Gewerkschaftsopposition, der jedoch nur ein kurzes Leben beschieden war.

Korporatismus

Faktisch waren die Gewerkschaften aber mit ihrer zunehmenden Einbindung in Konfliktregulierungsmechanismen auf dem Weg, eine Stütze des kapitalistischen Systems zu werden. Nach der Machtübernahme durch die Nazis 1933 gingen Teile des ADGB sogar soweit, die nationalsozialistischen Feiern zum 1. Mai zu unterstützen. Unmittelbar danach wurde der ADGB zerschlagen. An seine Stelle trat die Deutsche Arbeitsfront (DAF), eine Zwangsorganisation für die ArbeiterInnen. Ähnlich wie im italienischen Faschismus hatten diese die Aufgabe, zur Bildung einer wirkliche Volks- und Leistungsgemeinschaft, die dem Klassenkampfgedanken abgeschworen hat beizutragen. Primäre Aufgabe war es, durch vollständige Integration der Arbeiter in den Staat ein reibungsloses Funktionieren der Volkswirtschaft zu gewährleisten. Dieses System des Korporatismus [5] wurde faktisch in allen faschistischen Regimes im Europa des 20. Jahrhunderts etabliert.

Ein prinzipiell ähnlicher, wenn auch in seinen Auswirkungen auf des Leben der ArbeiterInnen weniger verheerender Weg, wurde in den USA der 1930er Jahre eingeschlagen, nachdem die Weltwirtschaftskrise dort zu einem rasanten Aufschwung an Klassenkämpfen geführt hatte. [6] Da diese von beiden Seiten sehr militant geführt wurden, sah sich die amerikanische Regierung unter Roosevelt gezwungen, durch staatliche Eingriffe das Verhältnis zwischen ArbeiterInnen und Unternehmern zu regulieren. Durch ein wirtschaftliches und politisches Stabilisierungsprogramm, das auch die gesetzliche Anerkennung der Gewerkschaften beinhaltete, wurden die Unternehmer faktisch gezwungen, mit den organisierten VerteterInnen der Arbeiterschaft zu verhandeln. Mit dem als New Deal bekannt gewordenen Reformwerk wurden die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Tarifpolitik gelegt, die ein wesentliches Merkmal des fordistischen Klassenkompromisses darstellt(e). Begleitet wurde diese Politik durch verschiedene Arbeiterschutzgesetze und staatliche Investitions- und Arbeitsbeschaffungsprogramme.

Nach der Zerschlagung des Faschismus, die auch eine kurzzeitige Radikalisierung der Gewerkschaften mit sich brachte, wurde dieses System im Prinzip auf die Staaten Westeuropas übertragen. In allen westlichen Industriestaaten wurden Verhandlungsmechanismen etabliert, an denen die Gewerkschaften neben den Unternehmerverbänden und dem Staat (mehr oder weniger) paritätisch mitwirkten. Diese Prozeduren wurden ebenso wie die Arbeitsbeziehungen generell hochgradig verrechtlicht. Damit wurde einerseits die Möglichkeit geschaffen, Ansprüche über die Gerichte durchzusetzen, andererseits die Hürden für Kämpfe höher gehängt. Zudem wurde durch die Akzeptanz der Spielregeln eine Art stillschweigendes Übereinkommen der gegenseitigen Anerkennung getroffen. Beide Seiten versuchten nicht einmal mehr auf dem Papier, die Gegenseite zu zerschlagen. Die Gewerkschaften wurden rechtlich auch soweit privilegiert, dass sie auch Bedeutung über ihre Mitgliedschaft hinaus erhielten die in den Verhandlungen erzielten Kompromisse wurden auch für Nicht-Mitglieder bindend.

Darüber hinaus entwickelten sich die Gewerkschaften immer mehr zu einem Ordnungsfaktor gegenüber den Belegschaften. Ein wesentliches Faustpfand für ihre Anerkennung war und ist die Fähigkeit der Gewerkschaften, die erzielten Vereinbarungen gegenüber ihren Mitgliedern, wie auch den Nichtorganisierten, durchzusetzen. Damit wurden die Gewerkschaften für lange Zeit zum Garanten für den Arbeitsfrieden und faktisch zu einem zentralen Stützpfeiler des kapitalistischen Systems. Goetz Briefs, ein katholischer Sozialphilosoph und Wirtschaftswissenschaftler, prägte für die modernen Gewerkschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den Begriff der befestigten Gewerkschaften [7]. Sie sind nicht nur durch Unternehmerseite und Staat anerkannt und fest in der Gesellschaft verankert, sondern haben auch in entscheidenden öffentlichen und politischen Institutionen Sitz und Stimme. In Deutschland wurde zudem ein System sogenannter Mitbestimmung etabliert. 1952 wurde im Betriebsverfassungsgesetz die Mitwirkungsrechte von Gewerkschaften und Betriebsräten festgelegt. So erhielten sie zumindest in der Montanindustrie das Recht, stimmberechtigte Vertreter in den Aufsichtsrat von großen Unternehmen zu entsenden, ein Recht, das in den 1970er Jahren auch auf die anderen Branchen ausgedehnt wurde.

Deutschland nimmt auch insofern eine Sonderrolle ein, weil es eines der wenigen Länder ist, wo ein besonders stark ausgeprägtes System der Regulierung der Arbeitsbeziehungen unter Mitwirkung der Gewerkschaften und Betriebsräte existiert. Das schlägt sich im Verbot politischer Streiks wie auch in einem stark formalisierten Arbeitskampfrecht nieder. Auch gibt es hier im Gegensatz zu Ländern wie Frankreich, Italien oder Spanien mit ihren auf die verschiedenen Parteien orientierten Richtungsgewerkschaften sogenannte Einheitsgewerkschaften. D.h. alle organisierten ArbeiterInnen sind Mitglieder einer der Branchengewerkschaften des 1949 als Dachverband gegründeten DGB. [8] Gleichwohl gibt es sehr enge Verflechtungen der DGB-Gewerkschaften mit der Sozialdemokratischen Partei, die lange Zeit faktisch auch als politische Interessenvertretung der Gewerkschaften im Parlament fungierte.

Jedoch wurde in allen westlichen Industriestaaten ein System des Interessenausgleichs zwischen Gewerkschaften, Unternehmern und Staat etabliert, das für einige Zeit eine relativ stabile kapitalistische Verwertung gewährleistete. Dieses System sozialpolitischer Konsolidierung wurde auch in Anlehnung an den frühen Korporatismus der 1920er bis 1940er Jahre oftmals als Neokorporatismus bezeichnet.

Krise der Gewerkschaften

Jedoch stieß dieser faktische fordistische Klassenkompromiss Ende der 1960er Jahre an seine Grenzen. Neben den Studentenunruhen kam es in den verschiedenen Ländern in unterschiedlichem Ausmaß auch zu spontanen ArbeiterInnenunruhen. Diese fanden i.d.R. ohne Zutun der Gewerkschaften stand, im Gegenteil die meisten Gewerkschaften und Arbeiterparteien versuchten, diese unter ihre Kontrolle zu bekommen oder bekämpften sie sogar. In vielen Ländern kam es zu Wellen wilder Streiks, wie auch zu weitverbreiteten informellen Widerstandsformen, wie Bummelstreiks, Absentismus, Sabotage. Besonders ausgeprägt waren solcherart gewerkschaftsunahbhängige Kämpfe in Italien, wo in den 1970er Jahren sich aus unorganisierten, zumeist jungen, ArbeiterInnen und ihrer Partei zunehmend kritisch gegenüberstehenden KommunistInnen eine neue Strömung in der ArbeiterInnenbewegung, der sogenannte Operaismus, herausbildete. Dieser steht gewerkschaftlicher Organisierung generell ablehnend gegenüber, da sich auch aus den radikalsten Gewerkschaften geradezu zwangsläufig bürokratische Gebilde entwickeln würden.

Mit dem Anstieg der Massenarbeitslosigkeit und dem Siegeszug des Neoliberalismus seit Beginn der 1980er Jahre gelang es den Gewerkschaften immer weniger, ihre Machtpositionen in der Gesellschaft zu halten. Zudem schwächen die zunehmenden Möglichkeiten für Standortverlagerungen infolge der Globalisierung die faktisch immer noch im nationalen Rahmen agierenden Gewerkschaften. Mit dem Niedergang der Großindustrien wie Bergbau, Stahlindustrie und der zunehmenden Dezentralisierung der Konzerne verloren die Gewerkschaften auch ihre wichtigsten Mitglieder-Bastionen.

Diese Entwicklung wurde durch den Zusammenbruch des Ostblocks noch verstärkt. Seitdem haben die Gewerkschaften nicht nur einen relativen, sondern nun auch einen absoluten Rückgang an Mitgliedern zu verzeichnen. Die Gewerkschaftsführungen reagieren auf diese Entwicklung mit einer immer schnelleren Anpassung an die aktuellen Sachzwänge. Sie beteiligen sich am Kampf um die Profitabilität der Betriebe und den Standort (Wettbewerbskorporatismus), Betriebsräte übernehmen zunehmend Managementfunktionen (Co-Management).

Nach innen wird versucht, durch Fusionen die Organisationsapparate zu verschlanken. Die Gewerkschaften entwickeln sich auch immer mehr zu Dienstleistungsunternehmen für ihre Mitglieder. Sie bieten diesen, neben rechtlichen Beistand bei gerichtlichen Auseinandersetzungen mit dem Arbeitgeber, auch Versicherungen für andere Bereiche, verbilligte Tarife für Automobilclubs, Ferienplätze usw. an.

Ihre geschwächte Position in den Tarifauseinandersetzungen, die schon seit einiger Zeit nur noch auf tönernen Füssen stand, wurde mit der wachsenden Dreistigkeit der Arbeitgeberverbände und des Staates offensichtlich. Inzwischen geht es nicht mehr darum, Lohnerhöhungen oder Verringerungen von Arbeitszeiten durchzusetzen, sondern Garantien für den Erhalt von Arbeitsplätzen durch Zugeständnisse bei der Flexibilisierung zu erreichen. Offensichtlich steckte der Arbeitgeberseite lange Zeit noch die Angst vor militanten Revolten der ArbeiterInnen in den Knochen, die sie von allzu drastischen Einschnitten bei Entlohnung und Arbeitsbedingungen zurückhielt. Damit dürfte es inzwischen vorbei sein.

In einigen Ländern, wie z.B. Frankreich und Italien, ist es in jüngster Zeit zur Gründung von Basisgewerkschaften durch unzufriedene GewerkschafterInnen und anderen AktivistInnen gekommen. Diese versuchen zum einen durch enge Verbindungen mit anderen sozialen Bewegungen und andererseits durch möglichst direkt-demokratische Strukturen organisatorische Verkrustungen zu verhindern und eine höhere Militanz zu entwickeln. Gleichzeitig gelang es in einigen Ländern anarcho-syndikalistischen Gewerkschaften wieder einigen Einfluss zu gewinnen. In Deutschland mehren sich in jüngster Zeit zwar auch Stimmen, die einen radikalen Wandel in der Politik der Gewerkschaften fordern, zu (organisatorischen) Konsequenzen ist es hierzulande jedoch noch nicht gekommen.

Zusammenfassung

In soziologischen Betrachtungen wird die Gewerkschaftsbewegung zumeist als ein Flügel der Arbeiterbewegung neben Genossenschaftsbewegung, Arbeiterparteien betrachtet. Während in volkswirtschaftlichen Betrachtungen vor allem deren Funktion als Kartell auf dem Arbeitsmarkt hervorgehoben wird, wird in der Industriesoziologie, aber auch durch das Management, auf deren Bedeutung für den Betriebsfrieden hingewiesen.

Im klassischen Marxismus wurde immer auf den Doppelcharakter der Gewerkschaften als ökonomische Organisationszentren der Arbeiterklasse und als Schulen des Sozialismus verwiesen. Im Parteimarxismus wurde ihnen eine politische Partei an die Seite gestellt und die Gewerkschaften zu deren Transmissionsriemen zu den Arbeitermassen degradiert. Dem entspricht die Charakterisierung in gängigen soziologischen Theorien, die den Gewerkschaften eine innere (gegenseitige Hilfe) und äußere Funktion (kollektive Verhandlung auf dem Arbeitsmarkt) zuschreiben, die mitunter noch durch eine allgemein-politische Funktion flankiert werden. Während historisch die Gewerkschaften oft eng mit politische Parteien oder Kirchen verflochten waren, haben sie sich heute im Allgemeinen zu Einheitsgewerkschaften entwickelt. Die in einigen Ländern immer noch anzutreffenden Verbindungen zu einzelnen politischen Parteien lösen sich zunehmend auf. Das betrifft nicht nur die im Zuge der Wende arg dezimierten kommunistisch orientierten Gewerkschaften, sondern auch die traditionelle Verflechtung der Einheitsgewerkschaften mit der Sozialdemokratischen Partei in Ländern wie Deutschland, wo praktisch gesehen seit längerem Einheitsgewerkschaften existieren. In anderen Staaten, wie Frankreich oder Italien, existieren die ehemaligen politischen Richtungsgewerkschaften zwar formal gesehen weiter, praktisch sind sie mit der Umwandlung der Parteienlandschaften in neoliberale Monokulturen nur noch konkurrierende Verbände, die kaum noch unterschiedliche Orientierungen bieten.

Die meisten Gewerkschaften haben im Laufe ihrer Existenz verschiedene Entwicklungen durchgemacht. Zum einen entwickelten sie sich von Organisationen der sozialen Bewegungen hin zu modernen Dienstleistungsunternehmen, oder anders ausgedrückt: von föderalistisch-basisdemokratischen Klein-Organisation hin zu zentralistisch-bürokratischen Massenorganisationen. Dabei erfolgte i.d.R. eine Verschiebung des Organisationsschwerpunktes von der lokal begrenzten, beruflichen Ebene hin zu landesweiten Industrie-Gewerkschaften. In einigen Ländern, wie z.B. Japan oder auch den USA erlangten aber auch (unternehmerfreundliche) Betriebsgewerkschaften ein entscheidendes Gewicht.

Aufgabe einer weiterführenden Untersuchung wäre es, zu untersuchen, inwieweit diese Entwicklungen einer Gesetzmäßigkeit entsprachen bzw. wo die Bruchpunkte sind, die diese Entwicklung vorherbestimmten. Auf der anderen Seite müsste eine Analyse der sich derzeit vollziehenden gesellschaftlichen Veränderungen und deren Auswirkungen auf die Organisation von Arbeiterkämpfen vorgenommen werden.

Fußnoten

[1] ganz allgemein das Recht, sich zu Vereinen oder Gesellschaften zusammenzuschließen, aber im Gegenzug auch das Recht, einem Verein oder einer Vereinigung fernzubleiben. ["Grundrechte", Microsoft(R) Encarta(R) 98 Enzyklopädie. (c) 1993-1997]

[2] In Deutschland verzehnfachte sich etwa die Mitgliedschaft der Gewerkschaften zwischen 1890 und 1913. Am Vorabend des ersten Weltkrieges war in Deutschland rund die Hälfte der Lohnarbeiter in Gewerkschaften organisiert.

[3] Zitiert nach Bock, Gisela: Die andere Arbeiterbewegung in den USA von 1905-1922. Die Industrial Workers of the World. München 1976, S. 61

[4] Ende 1922 gab es in Deutschland 10768 Tarifverträge für insgesamt 14,26 Mio. Beschäftigte. [Bolze, Waldemar: Der Weg der Gewerkschaften. Bremen o.J., S. 46]

[5] corporatio (lat.) = Körperschaft, d.h. ein Zusammenschluss von Personen aus gleichem Stand oder Beruf. Ursprünglich stammt der Begriff Korporatismus aus der katholischen Soziallehre. Durch das harmonische Zusammenwirken der verschiedenen Stände sollten soziale und politische Gegensätze überwunden werden.

[6] Generell erlebten die USA in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr heftige Klassenkämpfe. Diese wurden nicht nur von revolutionären Organisationen wie der IWW geführt, sondern auch von unorganisierten ArbeiterInnen oder gar den reformistisch orientierten Gewerkschaften. Es war zu dieser Zeit durchaus nicht selten, Lohnerhöhungen mit Hilfe von Dynamit durchzusetzen. Siehe dazu z.B.: Adamic, Louis: Dynamit. Geschichte des Klassenkampfes in den USA (1880 1930), Stuttgart 1985 oder Brecher, Jeremy: Streiks und Arbeiterrevolten. Amerikanische Arbeiterbewegung 1877-1970, Frankfurt/Main 1975

[7] Zitiert nach Müller-Jentzsch, Walther: Soziologie der industriellen Beziehungen. Eine Einführung. Frankfurt/Main 1997, S. 96

[8] Zwar gibt es mit dem Christlichen Gewerkschaftsbund noch einen Konkurrenzverband faktisch spielt dieser aber kaum eine Rolle als Organisation der ArbeiterInnen als Tarifpartner im Niedriglohnbereich schon.