Erwiderung der Berliner Beauftragten zu einem Artikel eines anonymen sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten im "Sächsischen Wochenblatt". [1]

"Der Sozialdemokrat" Nr. 2, 8. Januar 1887

Berlin, im Dezember 1886. Die in Nr. 46 des "Sozialdemokrat" veröffentlichte Erklärung der Berliner Parteigenossen gibt einem Anonymus, der angeblich "Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion" ist, Veranlassung, in Nr. 80 des "Sächsischen Wochenblattes" eine geharnischte Gegenerklärung zu erlassen. Die Berliner Parteigenossen sind nicht in der Lage, zu prüfen, ob jene Erwiderung auf ihre Erklärung tatsächlich von einem sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten herrührt, und diese Annahme fällt ihnen um so schwerer, als sie von einem solchen erwartet hätten, dass er, ebenso wie sie, nur einen angemessenen Ort für den schriftlichen Meinungsaustausch kennen würde, nämlich die Spalten des "Sozialdemokrat". Unter der Voraussetzung jedoch, dass das "Sächsische Wochenblatt" weder eine grobe Mystifikation begangen, noch einer solchen zum Opfer gefallen ist, wollen die Berliner Parteigenossen eine Entgegnung schon deshalb nicht schuldig bleiben, weil eine Anzahl der sogenannten Arbeiterblätter die "Gegenerklärung" nachgedruckt haben, und dieselbe so in die weitesten Kreise der deutschen Genossen gedrungen ist. Um den Raum des "Sozialdemokrat" nicht ungebührlich in Anspruch zu nehmen, glauben wir auf einen Abdruck der sehr umfangreichen Gegenerklärung und auf eine Kritik aller ihrer Einzelheiten verzichten zu müssen, und begnügen uns damit, den Kernpunkt herauszugreifen und zu beleuchten, es werden sich dabei auch einige untergeordnete Differenzpunkte streiten lassen.

Das "Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion des Reichstages" ist vor allem mit dem Schlusssatze unserer Erklärung nichteinverstanden und meint, dass "auf das Entschiedenste der Anschauung widersprochen werden müsse, als ob die sozialdemokratischen Abgeordneten die Sache der proletarischen Revolution zu fördern hätten". Die Aufgabe derselben sei anders aufzufassen. "Die sozialdemokratischen Abgeordneten haben die Arbeiterinteressen wahrzunehmen und sie haben intellektuell dahin zu wirken, dass immer mehr erkannt wird, wie die Durchführung sozialistischer Ideen durch den Staat, nach dem Stand der einmal gewordenen wirtschaftlichen Entwicklung, die Grundlage wirtschaftlicher Wohlfahrt schaffen kann, und dass durch diese Grundlage sich die sittlichen, politischen, rechtlichen Verhältnisse besser und vollkommen gestalten". Das "Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion" hat eine sonderbare Vorstellung von dem Gange der Arbeiterbewegung und ihrer Förderung durch die Reden der sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstage. Ihm scheint das Wörtchen "Klassenkampf" unbekannt oder unverständlich zu sein, so "gemütlich" polizeifromm stellt er sich die Wirksamkeit der Vertreter der Partei des Proletariats im Reichstage vor. Sie sollen "intellektuell" wirken, d.h. sie sollen Zeit und Worte vergeuden, um den vertierten Schädeln preußischer Krautjunker, den geschorenen oder gescheitelten Köpfen der privilegierten Verbreiter pfäffischen Blödsinns und den Spatzengehirnen denkfauler Bourgeois, mit einem Worte, um den Vertretern einer reaktionären Masse klar zu machen, dass sie allmählich aufhören müssen, so wie bisher, auf Kosten der Arbeiter zu leben. Leicht könnte, um die Aufgabe intellektuell zu lösen, selbst der Intellekt jenes "Mitglieds der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion" nicht ganz ausreichen. Da verstehen die Männer der Reaktion ihre Aufgabe in- und außerhalb des Reichstages besser. Die Spalten des "Sozialdemokrat" strotzen von Berichten über die blutlechzende Verfolgung, die gewaltsame Brutalisierung, die empörendste Niedertracht, denen die Genossen überall ausgesetzt sind. Sind das alles Lügen?? Gibt es ein Sozialistengesetz? Sind unzählige Existenzen materiell vernichtet worden? Hetzt die Polizeimeute unsere ausgewiesenen Brüder von Ort zu Ort? Droht das Zuchthaus den Anhängern unserer Ideen? Sind die Säbel geschliffen, die Flinten geladen, die auf uns einhauen und wider uns losgehen sollen? Oder nicht? Sind das alles böswillige Erfindungen und Übertreibungen?

Wenn das "Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion" imstande ist, diese Tatsachen aus der Welt zu schaffen, wenn es das Schuldbuch der heutigen Gesellschaft auszulöschen vermag, wenn es außerdem wirkliche, auf friedlichem Wege erlangte Zugeständnisse der herrschenden Klassen an das Parlament, keine Scheinkonzessionen, nachweisen kann, dann aber nur dann wollen die Berliner Parteigenossen ihn von der Aufgabe entbinden, "die proletarische Revolution" vorzubereiten, und wollen mit ihm der Ansicht werden, dass eine Geburt, zum ersten Male freilich in der Weltgeschichte, der Gruppen wie der Einzelwesen, ohne Wehen vor sich gehen wird. Vorläufig aber müssen die "beauftragten" Berliner Parteigenossen, die nicht die Ansicht von 56 oder 156 oder 560 Berliner Sozialdemokraten, wie das "Mitglied der sozialdemokratischen Fraktion herumratet, vertreten, sondern welche die große Majorität der zielbewussten sozialistischen Wähler Berlins hinter sich haben, das Recht für sich in Anpruch nehmen, die Ansicht des Einsenders im "Sächsischen Wochenblatt" für unvereinbar mit den wirklichen Verhältnissen, den Prinzipien der sozialdemokratischen Partei und den Geboten der Taktik zu halten. Statt im Reichstag den Bettelsack vor den gegnerischen Parteien zu schwingen, in den doch nie etwas fallen wird, was den Arbeiter satt machen kann, sollten die Vertreter des Proletariats im Reichstage noch in viel höherem Grade als jetzt unter das Volk gehen, um es aufzuklären, sollten sie die Tribüne des Reichstages nur betreten, um von der einzigen Stelle herab zu dem Volke zu reden, von der man noch frei zu ihm reden kann, sollten sie unermüdlich und unerschrocken agitieren, demonstrieren, organisieren.

Ja, das "Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion" hat recht, wenn es uns grundsätzliche Gegner des Parlamentarismus nennt, eines Parlamentarismus, der, wie Genosse Liebknecht im Vorwort seiner Broschüre über: "Die politische Stellung der Sozialdemokratie" sagt, in allen Staaten, wo er grassiert, zur Täuschung und Knechtung des Volkes dient, ein mit dem Schaumgold der Phrase beklebter Theatermantel, hinter dem der Absolutismus und die Klassenherrschaft ihre hässlichen Glieder und ihre Mordwaffen verstecken. Und deshalb sind wir auch gegen jede unnötige Konzession an diesen Parlamentarismus, gegen die Teilnahme an den Kommissionen, die ihre Beratung nicht öffentlich führen, und in denen die Kraft der Fraktion verzettelt wird, gegen die Teilnahme am "Seniorenkonvent", dessen Name schon den korpsstudentischen Bourgeoisgeist seiner Urheber verrät, gegen das ganze Interpellier- und Amendierheldentum, das im Volke den Glauben erweckt, es geschehe etwas, während in Wirklichkeit nichts geschieht. Wenn das "Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion" sich im Ernste wundert, dass wir die Teilnahme unserer Vertreter allein an der Wahlprüfungskommission nicht aufgehoben wissen wollen, und höhnisch meint, es könne höchstens das Wort "Wahl" sein, das uns mit ihr versöhne, so möge es sich beruhigen, das Wort "Wahl" hat so wenig verlockenden Klang für uns, dass wir die Beteiligung an einer Wahl unter dem Dreiklassenwahlsystem – vielleicht sehr zu seinem Leidwesen – abgelehnt haben. Wir messen der Beteiligung an der Reichstagswahl die Bedeutung eines guten Agitationsmittels zu, sie ist außerdem ein allerdings nicht ganz fehlerfrei funktionierendes Barometer, welches anzeigt, in welchem Umfange die Ideen der sozialdemokratischen Partei in die Massen der Wähler eingedrungen sind und wie weit der Zeiger der Weltenuhr hervorgerückt ist. Jede Ungültigkeitserklärung einer Wahl, die in der Kommission beschlossen und vom Plenum bestätigt wird, gibt bei der Nachwahl in dem betreffenden Kreise Gelegenheit zu neuer Agitation und zur weiteren Verbreitung unserer Prinzipien.

Vielleicht dürfte nach dieser Auseinandersetzung dem "Mitgliede der Reichstagsfraktion" der Sinn unserer Ansicht nunmehr erschlossen sein, wenn er es aber wünscht, können wir noch deutlicher werden. Wir fürchten allerdings, dass auch die größte Deutlichkeit uns gegen absichtliche Missverständnisse nicht zu schützen vermag. Denn wie ist es anders zu nennen, wenn in der Gegenerklärung gesagt wird, wir wollen "der Fraktion die Parteileitung" genommen sehen? Wir sprachen in unserer Erklärung nur davon, dass wir die Parteileitung "nicht mehr ausschließlich" in den Händen der Fraktion resp. des Fraktionsvorstandes wissen wollen. Der Unterschied liegt klar zu Tage, so klar, dass wenn wir nicht Böswilligkeit annehmen sollen, wir voraussetzen müssen, dass das "Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion" unsere Erklärung im "Sozialdemokrat" gar nicht selbst gelesen hat. In dieser Annahme werden wir auch dadurch bestärkt, dass in der Gegenerklärung in nicht misszuverstehender Verbindung von diejenigen gesprochen wird, welche die "gewählten Vertrauensmänner der Arbeiter, ihre Abgeordneten, mit Schmutz und Steinen bewerfen".

Eine so hochgradige Erregung Genossen gegenüber, die in sachlicher Form auf einige nach ihrer Meinung vorhandenen Übelstände aufmerksam machen und das Recht der freien Meinungsäußerung auch der Fraktion gegenüber für sich in Anspruch nehmen, ist um so unverständlicher, als das "Mitglied der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion" sich den Zuständen der heutigen Gesellschaft gegenüber so friedfertig zeigt, dass er beinahe eine Platz unter den Nationalliberalen verdiente.

Wir wolle die Polemik damit abbrechen und bemerken nur zum Schluss, dass der anonyme sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete jeden Tag, sobald er in Berlin ist, Gelegenheit haben kann, sich mit den Opponenten, den Einsendern der Erklärung, auseinanderzusetzen, wenn er auch, wie er behauptet, "überall von der Polizei begleitet" wird. In ihrem achtjährigen Kampfe mit der Polizei unter dem Ausnahmegesetz sind die Berliner Parteigenossen klüger geworden, als es dem "Mitgliede der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion" vielleicht lieb ist.

Die Beauftragten.

 

Fußnoten

[1] Der Verfasser war Max Kayser (1855-1888), seit 1880 Reichstagsabgeordneter für einen sächsischen Wahlkreis.